Vorbericht „Foreign Affairs“-Festival

Die Berliner Festspiele haben neben ihren bewährten Veranstaltungen wie dem Theatertreffen oder dem Musikfest eine neue ambitionierte Programmreihe ins Leben gerufen: Das Festival Foreign Affairs, das von 28. September bis 26. Oktober 2012 seine Premiere erleben wird, bringt Performances und Theateraufführungen aus allen Kontinenten nach Berlin. Das Festival will neue Sichtweisen jenseits eurozentrischer Denkweisen eröffnen und das deutsche Publikum mit spannenden, kontroversen Arbeiten bislang häufig unbekannter Künstler vertraut machen.

Die Festivalleiterin Frie Leysen erläutert in Ihrem Vorbericht für /e-politik.de/ das politische Konzept des Festivals und stellt die interessantesten Inszenierungen vor:

Foreign Affairs ist eine Einladung. Eine Einladung auf eine Affäre mit unserer Zeit und unserer Welt. Die Welt ist komplex. Wir sind daran gewöhnt, eine immer unübersichtlicher werdende Umgebung nur von unserem Standpunkt aus wahrzunehmen. Man hat uns Vereinfachungen angeboten, doch lässt sich das Komplexe weder durch Vereinfachungen begreifen, noch lassen sich mit Klischees Probleme lösen. Stattdessen kann man anfangen, sich in ein Verhältnis zur Welt zu setzen – und dabei den Standpunkt, von dem aus wir sprechen, mitzureflektieren und unser beschränktes Verstehen zu akzeptieren. Darüber gilt es miteinander in Dialog zu treten. Und der beginnt zwischen Menschen.

Die Welt ist bestimmt durch Spaltungen und Teilungen – trotz oder womöglich wegen ihrer Vernetztheit und der angeblichen Auflösung ihres Bruchs durch den Fall des Eisernen Vorhangs. Es scheint, das Nicht-Verstehen wird immer präsenter. So gewinnen einerseits internationale Vernetzungen und Zusammenhänge immer mehr Bedeutung. Andererseits steigt im Zuge globaler Verflechtung und Digitalisierung der Differenzierungsdruck auf Kulturen, Nationen und Gemeinschaften. Kaum ist die jahrhundertealte Idee der europäischen Gemeinschaft in wirtschaftlichen Krisenzeiten kein Grund mehr für eine Ode an die Freude, besinnt man sich auf die Kernfamilie – die Kultur, die Nation, die Gemeinschaft –, wird das Eigene beschworen und werden Grenzen (wieder) errichtet. Die Märkte stehen offen, doch die Menschen lassen zwischen sich die Schlagbäume fallen. Die damit einhergehenden Tendenzen, den oder die Anderen einseitig zu definieren, schlagen sich ebenso im Kunstbetrieb nieder, der an Offenheit verliert und verdauliche und verkäufliche Labels deklariert. Foreign Affairs ist ein Gegenvorschlag. Es gibt Diversität, Unterschiede und Dissens. Der Umgang damit kann jedoch nur durch furchtlose Offenheit bewältigt werden. So unsere Überzeugung. 
Menschen aus der ganzen Welt teilen nicht den Ort, wohl aber die Zeit: die Gegenwart. Europa und Amerika haben über Jahrhunderte die internationalen Regeln festgelegt. Grundsätzlich verstehen wir uns als Zeitgenossen und suchen daher das Zeitgenössische als weltweite Sprache auf, die Kontexte und Relationen herzustellen vermag. Deshalb konzentriert sich Foreign Affairs explizit auf zeitgenössische Kunst aus den Bereichen Theater, Tanz, Performance, Bildende Kunst, Film und Musik, oftmals lassen sich diese Gattungsgrenzen nicht einmal mehr ziehen. 
Foreign Affairs versteht seine Künstler als Berichterstatter unserer Zeit, als Zeitzeugen, ohne die die Welt aus bloßem unbearbeitetem Zeug bestünde. Die Künstler geben die Töne des Festivals vor, sie bestimmen, welche fernen oder nahen Angelegenheiten zu verhandeln sind: die Schönheit des Scheiterns, Erinnerung und Vergessen, Kolonialismus, Konsumismus, Ökologie, Manipulation, die bedrückenden und beglückenden Dynamiken von Gemeinschaften, das (Über-)Leben des Einzelnen in der Gesellschaft, unsere Unfähigkeit, mit anderen und Differenzen umzugehen, den Mut, Nein zu sagen und die Welt in Frage zu stellen. 
Um nur einige Beispiele zu nennen: Federico León erarbeitet in Berlin das Theaterstück Las Multitudes mit 108 Berlinern und 13 argentinischen Schauspielern. Die Arbeit spiegelt mit einer Choreografie von Vielheiten (Multitudes) das Zusammenspiel von Gemeinschaften, von individuellen wie kollektiven Prozessen, die die Menschheit ausmachen. Fabian Hinrichs hat in seiner ersten großen eigenen Bühnenarbeit, in der er Konzepteur, Regisseur und Schauspieler ist, den Mut, die ganz naiven und doch ganz großen Fragen des Lebens noch einmal zu stellen, verstärkt mit E-Gitarren und doch fast allein im großen Bühnenrund, das er wie kaum ein zweiter auszufüllen vermag. Erna Ómarsdóttir ist ein ebensolches Bühnentier, eine Naturgewalt, die uns all die Ungeheuer und Wesen zurückbringt, die wir mit klarem Geist gelernt haben auszuschließen. Anne Teresa De Keersmaeker, die keine Unbekannte in Berlin ist, jedoch lange nicht mit ihren großen Bühnenarbeiten hier war, stellt mit ihrem unnachahmlichen Gespür für Musik unfassbare, klare Schönheit in eine Welt, die aus Chaos und Unheil besteht, gestern wie heute. Dagegen steht die unvergleichliche Wut Rodrigo Garcías, der unsere ganzen so einfach gemachten Überzeugungen erschüttert – mit einer (Theater-)Sprache, die Bildende Kunst ist. Kyohei Sakaguchi wendet seinen Nicht-Glauben an unsere konsumverwöhnten Gewissheiten in Aktivismus: seiner Zero-Yen-Philosophie folgend baut er ein mobiles Haus aus Materialien, die andere wegwerfen, mit Mitteln, die allen zur Verfügung stehen. Das mobile Haus Sakaguchis wird drei Wochen lang Heim und Bühne für Marino Formenti, der sich in öffentlicher Zurückgezogenheit rein der Musik widmet und damit eine Reflektion anstiftet über Zeit und Musik und über die Konventionen, die bestimmen möchten, was ein Konzert ist und was ein Publikum. Brett Bailey indes führt das Publikum in Situationen, in denen er beharrlich und mit sehr persönlicher künstlerischer Sprache das Verhältnis zwischen Europa und Afrika thematisiert und koloniale Ermächtigungsstrategien aufdeckt. 
Foreign Affairs ist kein ‚Clash von Kulturen’, vielmehr ein Clash von Visionen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit verschiedenen Facetten der Welt auseinandersetzen, sie in ihrer Schönheit, Grausamkeit und Unzulänglichkeit beschreiben oder in Frage stellen. 
Foreign Affairs steht nicht unter einem Thema, sondern ist selbst Thema: Es verknüpft und versammelt 22 künstlerische Zeugnisse von 19 unabhängigen Persönlichkeiten aus Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika mit klaren Ansichten und dem Drang, diese mit einem Publikum zu teilen. 
Foreign Affairs versteht sich als Bindestrich – zwischen verschiedenen Menschen, Ideen und Standpunkten. Ephemer wie die performativen Künste an sich, dabei ein Raum für das Zusammenbringen und Präsentieren von künstlerischen Visionen und Fragen über und an die Welt, in der wir leben. Das Festival möchte Begegnungen provozieren, von Angesicht zu Angesicht. Denn was wissen wir schon über die Welt? Was wissen wir über die zeitgenössische Kunst in Buenos Aires, in Kumamoto, Kapstadt oder Tallinn? Wo stehen wir mit unserem europäisch imperialistisch geprägten, touristischen Blick im Verhältnis zu nicht-westlichen Künsten und Kulturen? 
Die Moderne war ein großes europäisches Projekt der Rahmensetzungen, Einteilungen, Objektivierungen, um die Welt als Bild anschauen zu können. Es war die Hervorbringung einer Definitionsmacht darüber, wer oder was der Andere ist. Foreign Affairs möchte den Blick wenden und einen Perspektivwechsel wagen. Denn wie irritiert war doch bereits Gustave Flaubert 1850 bei seinem ersten Besuch in Kairo, als er bemerkte, dass er den sogenannten Orient nicht fassen konnte, ihn nicht als jenen Ort vorfand, als den ihn die populär werdenden Weltausstellungen zeigten. Wie viel repräsentativer war doch das imitierte und doch erfundene ‚orientalische’ Straßenleben auf dem Ausstellungsgelände als die desorientierende Erfahrung auf den Straßen Kairos, welche nur die Abwesenheit einer bildlichen Ordnung feststellen konnte. Wie unmöglich es die Stadt ihm doch machte, einen Standpunkt zu finden, sich eine Perspektive zu verschaffen, auf dass das Chaos aus Farben und Details in einen Rahmen passen könne, versehen mit einer Bildunterschrift. Die Welt passt nicht in einen Rahmen, auch wenn uns das nicht zuletzt der Bühnenrahmen oft genug weismachen möchte. Was wir sehen – und ist nicht das Theater der prädestinierte Ort dafür? – sind nur Schnitte in die Oberflächenstruktur, Momentaufnahmen, die uns erlauben, einen Augenblick lang bei einem Einblick zu verharren, der kaum mehr als einen Wimpernschlag lang alles miteinander zu synchronisieren vermag. 

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