Jürgen Kutters „Demokratie“: Schlager-Geschichtsrevue am DT


Jürgen Kuttner
, bekannt für seine Videoschnipselvorträge an der Volksbühne, wo er abseitige Videos mit endlosen Monologen kommentiert, und als Vater der Moderatorin Sarah Kuttner, inszeniert bereits in der dritten Spielzeit in Folge gemeinsam mit Tom Kühnel am Deutschen Theater Berlin. Nach die Sorgen und die Macht und Capitalista, Baby! gelingt ihnen mit Demokratie ihre unterhaltsamste und stringenteste Produktion.

Sie halten sich erstaunlich eng an ihre Vorlage, das gleichnamige Politdrama von Michael Frayn aus dem Jahr 2003, das die zeithistorischen Vorgänge des Sturzes von Willy Brandt nachzeichnet. Unmittelbarer Auslöser war die Enttarnung seines persönlichen Referenten Günter Guillaume (Daniel Hoevels) als Stasi-Spion, tiefere Ursache waren die unübersehbaren Risse in der Mutter aller SPD-Troikas (Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt).

Die Machtkämpfe der drei Alphamänner werden gut herausgearbeitet, Bernd Stempel glänzt in der Rolle des knorrigen Fraktions-Zuchtmeisters Herbert Wehner, der auf Parteidisziplin pocht und die Aussöhnungspolitik mit dem Warschauer Pakt und die mangelnde Entscheidungsfreude des Kanzlers mit bissigen Kommentaren geißelt. Dabei spielt er Felix Goeser (Willy Brandt) und Andreas Döhler (Helmut Schmidt) streckenweise an die Wand. Auch vermeintliche Nebenfiguren wie Horst Ehmke (Helmut Mooshammer), der vom Posten des Kanzleramtschefs ins Postministerium abgeschoben wurde, des machtbewussten Innenministers und Strippenziehers Hans-Dietrich Genscher (Markwart Müller-Elmau), des Stasi-Führungsoffiziers (Michael Schweighöfer) und des fragwürdig agierenden Verfassungsschutz-Chefs Nollau (Matthias Neukirch) werden in interessanten Charakterstudien sichtbar.

Zeithistorische Aufklärung über das Innenleben der Sozialdemokratie in den 70er Jahren und über einen Einschnitt in die Geschichte der Bundesrepublik war aber sicher nicht das Hauptanliegen von Kuttner/Kühnel. Sie nutzen den Stoff als Spielwiese und toben sich mit eingestreuten Schlagern aus Ost und West nach Herzenslust aus. Man muss anerkennen: Was leicht in Albernheiten versinken könnte, funktioniert an diesem Abend richtig gut. Die Songs, die vom Band eingespielt und zu den recht synchronen Lippenbewegungen der Schauspieler in die Handlung integriert werden, setzen meist gelungene Pointen und spiegeln das Innenleben oder die Beziehungen zwischen den Protagonisten.

Ein Lob hat auch das Programmheft verdient: Dort findet das Publikum einige zeithistorisch interessante Ausgrabungen, wie ein wütendes 69-Punkte-Pamphlet des Bayernkurier-Chefredakteurs und Franz Josef Strauß-Vertrauten Wilfried Scharnagl aus dem Wahlkampf 1969 oder Reportagen aus Tageszeitungen über wichtige Stationen des Dramas.

Das Publikum muss an diesem Abend aber auch einiges aushalten: Die stinkenden Rauchschwaden, die von der Bühne in den Zuschauerraum ziehen, wirken genauso aus der Zeit gefallen wie die Handlung und die Schlager aus den 70er Jahren. Statt echter Zigaretten wären Attrappen wesentlich sinnvoller gewesen, gerade in einem Tag, an dem selbst der notorische Kettenraucher Helmut Schmidt bei der Verleihung des Westfälischen Friedenspreises das Rauchverbot im Rathaus von Münster respektiert und zwei Stunden lang auf einen Bruch des Gesetzes verzichtet.

Jürgen Kuttner konnte während der dreieinhalb Stunden-Inszenierung anscheinend nicht auf sein Nikotin zu verzichten. Außer seinem Gequalme setzte er immerhin auch positive Akzente in einem furiosen Rundumschlag, mit dem er ein Sebastian Hafner-Video anmoderierte, das sich ansonsten nicht recht in die Handlung einfügen wollte. Was ist von der Kultur eines Landes zu halten, fragt Kuttner, in der Günther Jauch als politischer Journalist, Veronica Ferres als Schauspielerin und Richard David Precht als Philosoph gilt?

Weitere Informationen und Termine

2 thoughts on “Jürgen Kutters „Demokratie“: Schlager-Geschichtsrevue am DT

  1. Pingback: Bei der letzten Vorstellung von “Demokratie” am Deutschen Theater wagt Jürgen Kuttner nur wenige Aktualisierungen › kulturblog @ /e-politik.de/: Kunst und Kultur

  2. Pingback: „Eisler on the beach“: laue Angelegenheit statt intensiver Auseinandersetzung mit Hysterie und Verrat › kulturblog @ /e-politik.de/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert