„Das Rad der Geschichte dreht sich“: DT-Matinee zur Großdemonstration vom 4. November 198

Am 15. Oktober 1989 trafen sich Kulturschaffende zu einer Diskussion am Deutschen Theater Berlin: die Deutsche Demokratische Republik stand zu ihrem 40. Geburtstag vor dem ökonomischen und moralischen Bankrott. Auf dem Leipziger Ring waren die Montagsdemos zu einem breiten Proteststrom über den Ring, auch in den anderen Bezirken der Republik gärte die Unzufriedenheit.

Die Künstler und Intellektuellen diskutierten darüber, wie sie den Protest auch ins Zentrum der SED-Macht nach Ost-Berlin tragen könnten. Mit Rechtsanwalt Gregor Gysi, mittlerweile Fraktionschef der Linkspartei im Deutschen Bundestag, berieten sie darüber, wie sie die Rechte einfordern könnten, die in der DDR-Verfassung nur formal auf dem Papier bestanden. Sie versuchten, beim Polizeipräsidenten eine Kundgebung für Samstag, 4. November 1989, auf dem Alexanderplatz anzumelden, bei der die Forderungen nach Presse- und Meinungsfreiheit im Mittelpunkt stehen sollten.

Das Deutsche Theater Berlin lud im Rahmen seiner Veranstaltungsreihe 25 Jahre Mauerfall gemeinsam mit der Robert Havemann-Gesellschaft zu einer bunt zusammengesetzten Podiumsdiskussion ein: mit den beiden unmittelbar an den Ereignissen Beteiligten Gregor Gysi und Jutta Wachowiak, die damals Schauspielerin im Ensemble des Hauses war, diskutierten Ines Geipel, die im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen geflohen war und sich mit kritischen Veröffentlichungen zum Doping-System einen Namen gemacht hat, Stephan Hilsberg, Mitbegründer der SDP im Wende-Herbst und einige Jahre Parlamentarischer Staatssekretär in der wiedervereinigten Berliner Republik, sowie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der einen fundierten Einführungs-Vortrag hielt.

In den knapp drei Wochen nach der Anmeldung der Kundgebung hatten sich die Ereignisse im Herbst 1989 stark beschleunigt: Erich Honecker und weitere führende Köpfe des Politbüros waren zurückgetreten, die Rufe nach Reisefreiheit wurden immer lauter. Auf dem Alexanderplatz kam es deshalb zu der surrealen Situation, dass kritische Künstler wie Ulrich Mühe, Christa Wolf oder Stefan Heym neben Vertretern des alten Regimes wie Stasi-General Markus Wolf und Politbüro-Mitglied Günter Schabowski sprachen. Während Wolfs und Schabowskis Reden mit Pfiffen und „Aufhören!“-Rufen quittiert wurden, brachte Stefan Heym die Stimmung des Tages auf den Punkt: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen.“ Besonders geschickt positionierte sich wieder einmal Gregor Gysi, dessen Rede mit Pfiffen und Beifall ambivalent begleitet wurde. Auch bei der Sonntags-Matinee am Deutschen Theater ließ er Angriffe der übrigen Diskussionsteilnehmer an sich abprallen und kritische Rückfragen ins Leere laufen.

Dennoch entwickelte sich eine knapp 90minütige muntere Diskussion, die sich auf einen Konsens einigen konnte: die Aufbruchstimmung dieser ersten Großkundgebung, die nicht vom DDR-Regime durchgeführt wurde, hinterließ bei allen Beteiligten nachhaltigen Eindruck und war ein wichtiger Baustein in der Dynamik, die fünf Tage später zum Fall der Mauer führte, da der Kreml nicht länger seine schützende Hand über die SED-Diktatur hielt.

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