Shenja Lacher als „Peer Gynt“ und „Orest“ am Residenztheater: einmal redundante Soloshow, einmal überzeugende Ensembleleistung

Das Münchner Residenztheater hatte in der Osterwoche zwei Inszenierungen von David Bösch an zwei aufeinanderfolgenden Abenden auf dem Spielplan, die auf den ersten Blick viel gemeinsam haben: sowohl der Peer Gynt als auch der Orest gehören zu den großen Charakteren des Literaturkanons. Beide Titelrollen spielt derselbe Schauspieler: Shenja Lacher. In beiden Stücken spielt Andrea Wenzl eine Frau an seiner Seite (die Solveig und die Elektra). Beide Abende tragen deutlich die Handschrift des Regisseurs David Bösch, der es wie wenige andere Regisseure versteht, die Handlung auf der Bühne mit schönen Popsongs nicht nur zu untermalen, sondern zu spiegeln. Eine weitere Gemeinsamkeit: beide Abende dauern mit Pause 2,5 Stunden.

Und doch sind die beiden Abende grundverschieden. Als Peer Gynt ist Shenja Lacher weitgehend auf sich allein gestellt. Die Figuren um ihn herum sind nur Staffage und er scheint mit der Solo-Show über diese lange Strecke überfordert. Das Publikum erlebt einen hektischen, zerrissenen Peer Gynt, der von Station zu Station hetzt. Ob bei den Trollen in den norwegischen Wäldern, die vom Bühnenbild und den Kostümschneidern liebevoll ausgestattet wurden, oder in der Wüste Nordafrikas: es ist einerlei, wo sich der Titelheld gerade befindet.

Regisseur Bösch und seinem Hauptdarsteller Lacher gelingt es nicht, für die Lebensreise des Peer Gynt stimmige Bilder zu finden. Ibsens Text ist wohl eher als Lesedrama für philosophische Reflexionen denn als Vorlage für zeitgenössische Bühneninszenierungen geeignet. Bösch und Lacher retten sich in eine Nummernrevue. Das geht über weite Strecken daneben: es wird munter gerülpst. Als sich Peer Gynt fast übergibt, murmelt jemand im Publikum: „Ich wusste, dass er diesmal kotzt.“

Auf der sicheren Seite ist Bösch immer dann, wenn er auf dem vertrauten Gelände der Popkultur wieder festen Boden unter den Füßen bekommt. Wenn er Shenja Lacher in einer Szene zunächst Udo Lindenberg und dann Herbert Grönemeyer imitieren lässt, ist das zwar ein gut gemachter, unterhaltsamer Moment, hängt aber völlig unmotiviert im Raum. Die stärkste Szene hat dieser Abend unmittelbar nach der Pause, als Peer Gynt als Reeder kapitalistische Erfolge in Nordamerika feiert. Bösch und Lacher übersetzen dieses Motiv aus der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts mit einem weiteren Zitat aus der Popkultur: ihr Peer Gynt tritt als präpotenter Rapper auf, der mit seinem Reichtum protzt und in einer kurzen Videoshow neben den Mächtigen und Reichen aus Politik und Wirtschaft posiert.

Solche Einfälle bleiben rar. Sybille Canonica ist als Aase unterfordert und Andrea Wenzl als „graue Maus“ Solveig kaum wahrzunehmen. Was bleibt, ist wie immer bei Bösch die schöne Musik.

Deutlich gelungener war die Orest-Inszenierung, mit der im September 2013 die damalige Spielzeit eröffnet wurde. Shenja Lacher zeigt, eingebettet in ein überzeugendes Ensemble, was er kann. Wie ausgewechselt wirkt vor allem auch Andrea Wenzl, die als Elektra diesmal keine bedauernswerte „graue Maus“ spielen muss, sondern die treibende Kraft eines mörderischen Geschwisterduos ist.

Das Publikum erlebt eine wortgewaltige, von der Gier nach Rache zerfressene Elektra, die ihre verbalen Giftpfeile gegen ihre Mutter Klytemnästra (Sophie von Kessel) und ihre Schwester Chrysothemis (Valerie Pachner) schleudert. Als ihr Bruder Orest endlich zurückkehrt, verbünden sie sich zu einem Rachefeldzug gegen Mutter, Schwester und Stiefvater Aigisth (Norman Hacker).

Ganz wesentlich zum Gelingen dieses Abends trug bei, dass Bösch auf eine glänzende Übertragung des antiken griechischen Atriden-Mythos. John von Düffel, Dramaturg am Deutschen Theater Berlin, wurde beauftragt, aus den Dramen der drei großen griechischen Tragödiendichter Sophokles, Aischylos und Euripides eine zeitgenössische Textfassung zu kompilieren, die überraschend stimmig ist. Sie lässt den Schauspielern viel Raum, ihre Figuren zu entwickeln.

Niemand ist bloßes Beiwerk, alle fünf Akteure sind tragende Säulen eines Abends, der nur nach der Pause einen Durchhänger hat. Nach der ersten Mordserie fläzt sich Elektra im Sessel, während Orest von den Erinnyen geplagt wird und ihn Gewissensbisse plagen. In dieser am schwersten zu spielenden Passage droht Shenja Lacher wieder auf dieselben Mätzchen wie beim Peer Gynt zu verfallen.

Böschs „Orest“ bekommt die Kurve als Sophie von Kessel und Norman Hacker auf die Bühne zurückkehren, diesmal als Helena und Menelaos, die dem Geschwisterpaar den Prozess machen. Wieder ist Elektra die treibende Kraft. Sie beharrt darauf, sich nicht ihrem Schicksal einer Steinigung zu ergeben, sondern auch die letzten Verwandten niederzumetzeln und den Palast, der an den Bonner Kanzler-Bungalow erinnert, in Flammen aufgehen zu lassen.

Ein starkes Schlussbild eines rasanten, überzeugenden Abends, als Elektra und Orest vor den Trümmern ihres Rache-Amoklaufs stehen und natürlich wieder der passende Popsong eingespielt wird. Einige Kritiker fühlten sich an Tarantinos Kill Bill und Oliver Stones Natural Born Killers erinnert, aber auch Michael Hanekes Funny Games sind nicht weit.

An dieser Schluss-Szene zeigt sich aber auch, dass die Lüftung am Residenztheater anscheinend nur suboptimal läuft. Obwohl in beiden Inszenierungen nicht völlig maßlos, sondern nur phasenweise gequalmt wird, wabert der Nikotingestank sehr unangenehm durch die Reihen des Bayerischen Staatsschauspiels. Dass dieser Gestank nicht besser in den Griff zu bekommen ist, ist vor allem deshalb verwunderlich, da Bayern neben Saarland und Nordrhein-Westfalen eigentlich ein Nichtraucherschutzgesetz hat, das noch am ehesten internationalen Maßstäben entspricht.

Peer Gynt von Henrik Ibsen in einer Übersetzung von Angelika Gundlach. – Regie: David Bösch. – Mit: Shenja Lacher, Andrea Wenzl, Sibylle Canonica, Michele Cuciuffo, Götz Schulte, Friederike Ott, Philip Dechamps, Arnulf Schumacher. – Premiere am Residenztheater: 14. November 2014. – Ca. 2,5 Stunden mit Pause

Orest von John von Düffel nach Sophokles, Aischylos, Euripides. – Regie: David Bösch. – Mit: Shenja Lacher, Andrea Wenzl, Sophie von Kessel, Norman Hacker, Valerie Pachner. – Premiere am Residenztheater: 13. September 2013. – Ca. 2,5 Stunden mit Pause

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