Thalheimers Inszenierung von Jelineks „Schutzbefohlene“ mit erhobenem Zeigefinger und plakativen Bildern

Dieser Abend ist eine neunzigminütige Anklage. Eine Publikumsbeschimpfung, wie die reichen europäischen Staaten es zulassen können, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken.

Sechzehn Mitglieder des Wiener Burgtheaterensembles stehen auf der dunklen Bühne, Masken über dem Kopf, die an die Aktion von Pussy Riot in der Moskauer Kathedrale erinnern. Zu Bert Wredes monotoner Geigenmusik, die sich diesmal nicht ganz so in den Vordergrund drängt wie beim Nachtasyl an der Schaubühne, entwarf Olaf Altmann ein sehr plakatives Bühnenbild: Der Flüchtlingschor watet durch das Wasser (als naheliegendes Bild für das Mittelmeer) und hat ein überdimensionales, hell leuchtendes Kreuz im Rücken. Dieses Kreuz steht für die Votivkirche und die Auseinandersetzungen österreichischer Innenpolitik im Jahr 2012, die Elfriede Jelinek so sehr empörten, dass sie zu dieser Klage-Suada ansetzte, die immer noch ein Work in Progress ist, ebenso wie ja auch das Flüchtlingsdrama längst nicht beendet ist, sondern nur von den Schlagzeilen um die Zukunft Griechenlands vorübergehend von den Titelseiten verdrängt wurde.

Noch während der Proben lieferte Jelinek Seite um Seite, Regisseur Thalheimer und sein Dramaturg Klaus Missbach kürzten die Textfläche radikal um die Hälfte und bemühten sich um einen strengen Zugriff: Die Konzentrationsleistung, mit der die 16 Akteure im Chor klagen, wimmern und schreien, ist beeindruckend. Als monolithischer Block ohne klare Konturierung individueller Schicksale heben sie 90 Minuten lang den Zeigefinger: So menschenunwürdig sind die Zustände! Und ihr dort unten im Publikum tut nichts dagegen! Ihr nehmt uns Flüchtlinge in Eurem Alltag nicht mal wahr!

Die Verlesung der Anklage wird nur kurz für einen Auftritt der Opern-Diva Anna Netrebko unterbrochen: in wallernder Robe singt sie eine Barock-Arie von Händel. Bei ihr ging die Einbürgerung eben so schnell wie bei einer Tochter von Boris Jelzin. Die Botschaft: Schönheit und Reichtum öffnen Türen, der Rest verheddert sich in den Mühlen der Bürokratie.

Ansonsten wird der Klagechor nur noch durch die Jelinek-typischen Kalauer unterbrochen. Wuchtig, aber eindimensional kommt dieser Abend daher und stellt sich in klaren Gegensatz zu Nicolas Stemanns Uraufführungsinszenierung, die erst vor kurzem zur Eröffnung des Theatertreffens in Berlin gastierte.

Während Thalheimer seinen Abend fast ausschließlich aus der Perspektive der Flüchtlinge erzählt und die Tonlage ebenso kaum variiert wie den Klangteppich, näherte sich Stemann der Jelinek-Vorlage spielerisch aus verschiedenen Perspektiven und mit satirischem Biss. Erst dadurch fordert Stemann das Publikum richtig heraus, seine Inszenierung hinterlässt bei mir den stärkeren Eindruck.

Als der Klagechor verstummt, gleichen die Reaktionen des Autorentheatertage-Gastspiel-Publikums am Deutschen Theater Berlin den Meinungen aus der Feuilleton-Rundschau: auf der einen Seite begeisterter Applaus, ein proppenvoller Saal beim Nachgespräch und Dank an das Burgtheater-Ensemble für diese wortgewaltige Anklage; auf der anderen Seite verschränkte Arme, ermüdet von dem wütenden Wortschwall, bei dem schon nach zehn Minuten klar war, auf welchen Kritikpunkt er hinauswill.

Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. – Regie: Michael Thalheimer, Bühnenbild: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Chorleitung: Marcus Crome, Musik: Bert Wrede, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach. – Mit: Jasna Fritzi Bauer, Sarah Viktoria Frick, Alexandra Henkel, Christiane von Poelnitz, Stefanie Reinsperger, Catrin Striebeck, Adina Vetter, Lucas Gregorowicz, Tino Hillebrand, Daniel Jesch, Marcus Kiepe, André Meyer, Tilo Nest, Thomas Reisinger, Daniel Sträßer, Stefan Wieland, Marelize Gerber, Ghazal Kazemi, Anna Manske, Monika Schwabegger. – Ca. 90 Minuten, ohne Pause. – Premiere am Wiener Burgtheater: 28. März 2015. – Gastspiel bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin am 22./23. Juni 2015

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