Politisches Theater: „Süpermänner“ sprechen über ihre Biografien, Rimini Protokoll mixt Flucht-Schicksale mit John Cage, Hans-Werner Kroesinger auf Spurensuche „Graecomania. 200 Years“, „Der Botschafter“-Performance beleuchtet Zustände in Westafrika

Spannende Zeiten: Die ZEIT lässt ihren Theater-Fachmann Peter Kümmel die Berliner GroKo analysieren. Kanzlerin Merkel erinnert ihn an Figuren von Robert Wilson. Horst Seehofer setzt in TV-Interviews das alte Stilmittel des „Beiseitesprechens“ ein und würde damit perfekt in eine Commedia dell´Arte passen, erinnert aber auch an Frank Underwood in „House of Cards“. Und auf den Bühnen jagt derzeit ein politischer Stoff den nächsten.

Das politische Theater steht vor einer zentralen Herausforderung: Wie lassen sich die recherchierten Fakten und Querverbindungen in ein dramaturgisch schlüssiges Konzept gießen? Wie gelingt es, den Stoff für das Publikum so aufzubereiten, dass es sich nicht vom moralisch erhobenen Zeigefinger abwendet und nur die kleine Gemeinde der ohnehin Überzeugten übrig bleibt? Vor dieser Aufgabe standen auch vier Inszenierungen, die in den vergangenen Wochen in Berlin zu sehen waren.

Der Botschafter: Gintersdorfer/Klaßen performen mit prominentem Gast assoziativ zu Problemen Westafrikas

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Bild: Gintersdorfer/Klaßen/HAU

Einen ersten Aufschlag machten Monika Gintersdorfer und ihr Partner Knut Klaßen: „Der Botschafter“ wurde als „Ein deutsch-westafrikanisches Singspiel“ angekündigt und vom Hebbel am Ufer (HAU) Berlin, Kampnagel Hamburg und FFT Düsseldorf co-produziert.

Der Abend beginnt mit einem freudigen Wiedersehen mit Anne Tismer, die vor mehr als einem Jahrzehnt als „Nora“ an der Schaubühne glänzte und sich anschließend vom Staats- und Stadttheaterbetrieb abnabelte. In einem Sprech-Sing-Sang referiert sie die harten Auswahlkriterien des Auswärtigen Amtes für den Diplomatischen Dienst.

In den folgenden zwei Stunden bemühen sich die Schauspieler, Musiker und Performer aus der Elfenbeinküste und Deutschland nach Kräften, das überwiegend sehr junge Publikum bei Laune zu halten: Die phantasievollen Kostüme werden häufig gewechselt. Schlag auf Schlag wird eine Episode nach der anderen aus dem Arbeitsalltag deutscher Botschafter in Liberia, Guinea und der Republik Côte d’Ivoire nachgespielt. Dialoge mischen sich mit Choreographien, die von Jaques Demys Musical-Filmkomödie „Die Regenschirme von Cherbourg“ inspiriert sind, und kurzen Songs.

Das ist zugegebenermaßen unterhaltsam und wurde vom Publikum am Ende dankbar beklatscht. Leider wurden die Fragen, die Gintersdorfer/Klaßen aufwerfen, aber nur angerissen. Wie kann der Botschafter eines Staates, der vor einem Jahrhundert als Kolonialmacht für den Völkermord an den Herero verantwortlich war, auf dem afrikanischen Kontinent glaubhaft auf die Einhaltung der Menschenrechte pochen, ohne sich den Vorwurf der Doppelmoral einzuhandeln? Wie kann er den Potentaten entgegen treten, die ihr Land ausplündern und Bodenschätze verschachern, die Formen diplomatischer Höflichkeit wahren und dennoch in den Spiegel schauen? Wie kann er auf Rassismus-Vorwürfe reagieren, die ihm vorhalten, dass er als Weißer nur belehren will? Wie muss er sich bei Machtkämpfen verhalten? Ein plastisches Beispiel ist die Situation des Botschafters Keller, der während der Kämpfe zwischen Laurent Gbagbo und Alassana Ouattara, die sich 2010 beide zu Wahlsieger erklärten, zehn Tage seine Residenz nicht verlassen konnte.

In dem bunten Spektakel „Der Botschafter“ kommen diese interessanten Themen zu kurz. Sie werden nur angetippt, bevor der Abend assoziativ weiterspringt.

Süpermänner: türkischstämmige Männer in Kreuzberg und Neukölln erzählen aus ihrem Leben

Die Schauspielerin Idil Üner holte für ihre Regiearbeit „Süpermänner“ fünf türkischstämmige Männer zwischen 27 und 73 auf die Bühne des Ballhaus Naunynstraße. Edel gekleidet mit Anzug und Krawatte erzählen sie abwechselnd aus ihren Biographien.

So entsteht 90 Minuten lang ein Kaleidoskop unterschiedlicher Erfahrungen: einer (Tarkan Bruce Lohde, der jüngste des Quintetts) quälte sich durch die Hauptschule und fühlte sich perspektivlos. Für einige Jahre glaubte er, bei einer Bundeswehr-Eliteeinheit seine Berufung gefunden zu haben, wandte sich aber angesichts des Afghanistan-Einsatzes wieder recht schnell von der Truppe ab. Ein anderer erzählt kurzweilige Anekdoten über seine Verbindungen zur Mafia-Unterwelt in Budapest und bedauert, dass seine beiden Söhne die Schule kurz vor dem Abitur verlassen und sich einer islamistisch-fundamentalistischen Weltuntergangs-Sekte angeschlossen haben. Sie blocken alle Kontaktversuche ihres Vaters ab. Ein Dritter berichtet, dass er aus Verzweiflung und Geldnot Raubüberfälle startete. Lange lief alles gut, bis seine Frau der Polizei nach einem Ehekrach einen Tipp gab. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt und entdeckte im Gefängnis, wohin er nach der Vorstellung auch wieder zurück musste, die Bibel für sich.

Die Erzählungen reihen sich aneinander und werden nur von einem Running Gag unterbrochen: die Männer scheitern regelmäßig daran, den „Erlkönig“ zu singen, erst im letzten Anlauf klappt es. Ansonsten kommt der Abend recht steif daher. Die Fakten werden im Stil des Frontalunterrichts vorgetragen, die spielerische Leichtigkeit geht verloren.

Das Verdienst des Abends ist es, dass die türkischstämmigen Männer hier selbst zu Wort kommen und dem Publikum über ihre Erfahrungen berichten, anstatt dass nur über sie geredet wird. Das ist das Prinzip des postmigrantischen Theaters, dessen 10. Geburtstag am 30. Januar mit einer Party im Ballhaus Naunynstraße gefeiert wurde.

Evros Walk Water: Planschspiele und Fluchtschicksale zu Gast in der Box des Deutschen Theaters

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Bild: Daniel Wetzel

Das Regie-Kollektiv Rimini Protokoll zählt zu den Pionieren des Recherchetheaters und hat oft genug bewiesen, dass sie es verstehen, interessante Zusammenhänge überraschend aufzubereiten und unterhaltsam zu präsentieren.

Für „Evros Walk Water“ reiste Daniel Wetzel nach Athen und unterhielt sich mit 15 Jungen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien und dem Irak über ihre Flucht. Sie haben alle gemeinsam, dass sie über den griechisch-türkischen Grenzfluss Evros übersetzten.

Die kurzen Interviews erzählen von der Not des Bürgerkriegs, der Flucht vor dem Teufelskreis einer Vendetta und dem Traum der Jugendlichen von einem Leben in Sicherheit, Freiheit und mit Musik. Das Publikum hört diese Schilderungen über Kopfhörer an knapp zwanzig verschiedenen Audio-Stationen, die deutsche Übersetzung sprechen junge Liechtensteiner, da der Abend dort zum ersten Mal aufgeführt wurde.

Leider werden diese Refugee-Biografien fast völlig von einer an Kindergeburtstage erinnernden Rahmenhandlung überlagert: das Publikum spielt zwischen den Höreindrücken auf Anweisung der jungen Flüchtlinge das auf drei Minuten gekürzte Stück „Water Walk“ von John Cage (1960) insgesamt sechs Mal nach. Dieses Mitmachtheater mit Planschbecken, Gießkanne und Gummiboot nimmt zu viel Raum in diesem einstündigen Abend ein und drängt das zentrale Thema, die Flucht-Schicksale, so sehr an den Rand, dass das Publikum bei diesem Rimini Protokoll-Gastspiel in der Box des Deutschen Theaters kaum neue Erkenntnisse zu den hochaktuellen Problemen an der EU-Außengrenze mitnimmt.

„Graecomania. 200 Years“: Hans-Werner Kroesingers Spurensuche deutsch-griechischer Verstrickungen

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Bild: David Baltzer

Ein weiterer bekannter Vertreter des Recherchetheaters ist Hans-Werner Kroesinger, der vor wenigen Tagen seine erste Einladung zum Berliner Theatertreffen bekam. Dort wird er im Mai mit „Stolpersteine Staatstheater“ zu Gast sein.

Seine früheren Abende hatten oft den Makel, dass sie das Publikum mit einer Flut von Details schier überfordern. In „Musa Dagh“, das er vor einem Jahr zum 100. Jahrestag des Genozids an den Armeniern im Gorki präsentierte, hatte er dieses Problem schon gut im Griff. In seiner neuen Arbeit „Graecomania. 200 Years“ ist es ihm noch besser gelungen, die Balance zwischen der Vermittlung akribisch recherchierter historischer Fakten und unterhaltsamen Spielszenen zu finden.

Zu Beginn des Abends fläzen sich die vier Protagonisten des Abends in ihren Liegestühlen vor der Akropolis-Bilderbuchkulisse und schwelgen in Sirtaki-Klischees. Die heitere Stimmung wird durch eine Politiker-Rede über den drohenden Staatsbankrott unterbrochen. Gemeint sind aber nicht die hektischen Debatten über einen drohenden „Grexit“, die schon so viele EU-Gipfel beschäftigten, sondern ein Staatsbankrott aus dem Jahr 1838: Damals musste Athen bei den Großmächten einen Aufschub seiner Zahlungen beantragen.

Der Abend schlägt einen Bogen von der Griechenland-Begeisterung der Philhellenen über die Kriegsverbrechen der Nazis bis in die jüngste Vergangenheit: zitategesättigt und voller interessanter Bezüge schlägt Kroesinger Schneisen durch das deutsch-griechische Beziehungsgeflecht der vergangenen zwei Jahrhunderte.

Mit Flugblättern wurden im 19. Jahrhundert Freiwillige geworben, die „unser Blut gegen Muselmänner“ verteidigen und die Stätten der griechischen Antike vor den „Ungläubigen“ retten sollten. Athen bestand aus Schutt und Lehmhütten, als der Wittelsbacher Otto von Bayern im Jahr 1833 als erster König Griechenlands gekrönt wurde.

Auch im Programmheft ist ausführlich nachzulesen, wie Griechenland unter Otto I. und seinem Nachfolger Georg I. mit der Finanznot zu kämpfen hatte und regelmäßig neue Staatsanleihen auflegen musste. Im Dezember 1893 erklärte sich die griechische Regierung für zahlungsunfähig, bis 1941 musste Griechenland Tilgungsraten und Zinsen abstottern.

Ein traumatischer Einschnitt in den deutsch-griechischen Beziehungen war die Besatzung durch die Nazis. Kroesinger dokumentiert nicht nur die Kriegsverbrechen von Wehrmacht und SS, sondern auch die Verstrickung von Firmen wie Reemtsma, die sich die griechische Tabakernte als Beute einverleibten: ein Tiefpunkt der zweifelhaften Unternehmensgeschichte. Etwas ausführlicher geht Kroesinger anschließend auf die deutsch-griechischen Verhandlungen während der Adenauer-Ära der späten 50er/frühen 60er Jahre ein, als es um Reparationen für Kriegsverbrechen und neue Kredite ging.

Die Stärke des Abends ist, dass er die Fakten nicht abarbeitet, sondern erhellende Bezüge schafft und auch immer wieder mit gelungenen Spielszenen unterhält. Auf der Zielgeraden kommt der „Graecomania“-Abend in der Gegenwart an. Die vier Schauspieler fragen sich, wie Griechenland überhaupt in den Euro aufgenommen werden konnte, obwohl das gesamte System auf Klientelismus basiert, auch von einem „failed state“ ist die Rede. Es wird hektischer auf der Bühne, Forderungen nach einem Marshall-Plan werden laut, eine Tsipras-Rede wird eingespielt und der Ökonom Thomas Piketty zitiert.

Durch das Stimmengewirr dringt die Frage: Was ist die Lösung? – Das Thema ist seit einigen Monaten aus den Schlagzeilen verdrängt, eine Antwort ist nicht in Sicht. Licht aus, die Bühne wird schwarz.

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