A Dancer´s Day/10.000 Gesten

In der zweiten Volksbühnen-Produktion der Ära Dercon lädt der französische Choreograph Boris Charmatz sein Publikum ein, den Tagesablauf eines professionellen Tänzers nachzuvollziehen: vom gemeinsamen Aufwärmen über Ruhephasen und den großen Auftritt auf der Bühne bis zur Party nach dem Event.

Nach einem Publikumsworkshop stand ein gemeinsames Picknick auf dem Programm. Die Besucher dürfen es sich auf Decken auf dem harten Asphalt des Hangar 5 des stillgelegten Flughafens Tempelhof bequem machen. Dazwischen zieht der kalifornische Tänzer Frank Willens seine Kreise. Er war zuletzt in Falk Richters fulminantem „Fear“ (2015) an der Schaubühne zu erleben. „Fear“ wäre auch ein passender Titel für diese Performance. Nackt und schutzlos, mit oft angstverzerrtem Gesicht, taumelt Willens zwischen den Besuchern. Er ist kein Teil der Gemeinschaft, die in den programmatischen Texten des Volksbühnen-Teams eine zentrale Rolle spielt.

Diese Tanzeinlage ist eindrucksvoll, aber nicht neu: 2013 gastierte Frank Willens (gemeinsam mit Boris Charmatz und Andrew Hardwidge) bei der Jubiläumsausgabe von „Tanz im August“ im HAU, das mit der Volksbühne in den kommenden Monaten wohl noch öfter um dieselben Publikumssegmente konkurrieren wird. „Ohne Titel (2000)/ untitled (2000)“ ist diese Choreographie überschrieben, die Tino Sehgal in den ersten Jahren noch selbst getanzt hat. Als Streifzug durch die Tanzgeschichte des gerade zuende gegangenen 20. Jahrhunderts hat er diese 50minütige Arbeit damals konzipiert.

Als verzweifelte Kreatur fletscht Frank Willens die Zähne: Wie ein Zombie bahnt er sich den Weg, bevor er sein Solo mit einer Live-Pinkel-Aktion beendet, die vor 40 Jahren anarchisch gewirkt haben mag, heute recht gleichmütig vom Publikum aufgenommen wurde.

Nach meditativer Entspannungsmusik folgte erst noch eine längere Umbaupause. Das als Highlight des Abends angekündigte „10.000 Gesten“ sollte laut Programmheft eigentlich organisch aus den vorherigen Teilen des insgesamt 6,5stündigen Abends entwickelt werden: „Zusammen nimmt man eine Mahlzeit ein, bevor sich eine Gruppe langsam aus der Gemeinschaft herauszuschälen beginnt.“

Zu einer Aufnahme von Mozarts Requiem in D minor K.626 unter Herbert von Karajans Dirigat toben die Tänzerinnen und Tänzer über die Bühne. Die zarte Musik und die grobschlächtigen Gesten stehen in einem scharfen Kontrast. „Die Sinne schärfen. Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden. Raus aus dem Totalzusammenhang. Kommt zusammen!“, postete das Social Media-Team der Volksbühne am 1. August. Das krasse Gegenteil davon bekommt das Publikum in „10.000 Gesten“ geboten: hektisches Gebrüll, lautes Röcheln. Kurz vor Schluss tigern die Performer durch die Publikumsreihen und versuchen es aufzumischen. Statt eines präzisen Bewegungsrituals ist diese Performance zu sehr auf Krawall gebürstet.

Bild: Ursula Kaufmann

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