Around the world in 14 films 2017

Die Ära von Dieter Kosslick neigt sich dem Ende entgegen. In einem Offenen Brief machten 79 Regisseure ihrem Ärger darüber Luft, dass die Berlinale im Vergleich zu anderen großen Festivals ins Hintertreffen geraten ist. In der Tat: Am Potsdamer Platz gab es in den vergangenen Jahren zu viel Mittelmaß und zu viel Altbackenes im Wettbewerb. Unübersichtlich wuchern die Nebenreihen vor sich hin. Spannende Trends des Weltkinos und innovative Filmemacher wurden zu oft übersehen.

Deshalb ist es ein Glücksfall für Berlin, dass Bernhard Karl und sein Team jedes Jahr im November zu einer cineastischen Weltreise einladen und in der Kulturbrauerei unter dem Titel „Around the World in 14 Films“ die Filmraritäten präsentieren, die sie bei ihren Streifzügen vor allem in Cannes, Venedig und Locarno aufgespürt haben.

In den kommenden Tagen möchte ich einige der Filme vorstellen:

Ein Höhepunkt zur Eröffnung war „Loveless/Nelyubov“ von Andrey Zvyagintsev, der in Cannes im Mai 2017 mit dem „Preis der Jury“ ausgezeichnet wurde. Die Kritik an Putins autokratischem Regime ist in diesem Film nicht mehr ganz so explizit wie in „Leviathan“, dem „14films“-Eröffnungsfilm des Jahres 2014 (Kritik), aber immer noch deutlich zwischen den Zeilen herauszulesen. Eine Breitseite feuert Zvyagintsev vor allem wieder gegen den starken Einfluss der orthodoxen Kirche auf die russische Gesellschaft ab.

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Bild: Why Not Productions

Während „Leviathan“ das Panorama einer korrupten Gesellschaft zeichnet, taucht „Loveless“ ins Private ein. Zvyagintsevs neuer Film ist noch wesentlich düsterer und beginnt als schmutzige Scheidungs-Schlammschlacht, in dem sich die Ex-Partner Beleidigungen an den Kopf werfen. In den knapp zwei Stunden zeigt der Film lauter unsympathische, bindungsunfähige Egoisten, die sich nach schnellem Geld sehnen und erst aufwachen, als der gemeinsame Sohn Alyosha spurlos verschwunden bleibt. Es überrascht, dass Russland dieses giftige Porträt sozialer Misstände als Kandidat für den Auslands-Oscar 2018 ins Rennen schickt.

Auf radikalen Konfrontationskurs mit dem iranischen Regime geht Mohammad Rasoulof in seinem zutiefst pessimistischen Drama „Lerd/A man of integrity“, das in Cannes mit dem Hauptpreis der Nebenreihe „Un certain regard“ ausgezeichnet wurde. Der Filmemacher, der bereits mehrfach inhaftiert wurde, keine Ausreisegenehmigung mehr erhält und auch diesmal nur heimlich drehen konnte, erzählt vom Fischzüchter Reza (gespielt von Reza Akhlaghirad). Immer enger legt sich die Schlinge um den Hals dieser tragischen Figur, die von „Variety“ in ihrem unbeirrbaren Streben nach Gerechtigkeit mit Kleists Michael Kohlhaas verglichen wurde und Kino-Zeit.de an den biblischen Hiob und Kafkas Romanhelden erinnerte.

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Bild: Mohammad Rasoulof

Völlig ohne Umschweife prangert Rasoulof die Korruption im politischen System und der Justiz Irans an. Deshalb hat sein jüngstes Werk ebenso wenig eine Chance, die Zensur zu passieren, wie seine fünf vorherigen Filmen. Wie schon 2013, als „Manuscripts don’t burn“ präsentiert wurde (Kritik), zählt Rasoulof wieder zu den stärksten Regisseuren dieses „14films“-Festival-Jahrgangs.

Thematisch eng verwandt, aber noch düsterer ist der zweite russische Film: Sergei Losnitza schickte in „Die Sanfte/Krotkaya“ seine Hauptfigur durch mehrere Kreise der Hölle. In der Manier des realistischen Sozialdramas begleitet die Kamera Alyonka (gespielt von Vasilina Makovtseva) auf der Suche nach ihrem verhafteten Mann. Je weiter sie vordringt, desto widerwärtiger werden die Schikanen, desto schlimmer wird die Häme anderer Bittsteller. „Die Sanfte“ erträgt dies alles mit erstaunlicher Gelassenheit, bis hin zum grotesken Finale, das wie eine Groteske aus der Feder von Nikolai Gogol wirkt.

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Bild: © Slot Machine

Dass gleich zwei russische Filme im Wettbewerb von Cannes liefen und zum „14 Films“-Festival nach Berlin eingeladen waren, zeigt wie vital das russische Kino auch in diesen Jahren unter Putin immer noch ist. Als Filmpate stand wieder Ulrich Matthes zur Verfügung, der im Moment neben seinen Hauptrollen am Deutschen Theater Berlin zwei wichtige Nebenbeschäftigungen hat: Frank Plasberg lädt ihn regelmäßig ein, das Niveau des TV-Stammtischs „hart aber fair“ zu heben und dort die Sicht eines SPD-Wählers zu vertreten. Beim „14films“-Festival entwickelte er sich zum Experten für das russische Kino, dem wir in den vergangenen Jahren schon sehr interessante Gespräche mit Zvyagintsev und dem derzeit inhaftierten Regisseur Kirill Serebrennikow verdankten.

Sean Baker nahm uns in „The Florida Project“ dorthin mit, wo Trumps Amerika besonders „ranzig“ ist, wie Filmpate Knut Elstermann (radioEins) konstatierte. Dieser Film ist nicht ganz so dreckig und experimentell wie der auf iPhone gedrehte Vorgänger „Tangerine, L.A.“ (Kritik) und hat mit Willem Dafoe auch einen prominenten Star zu bieten. Er spielt den Motelmanager Bobby, der in einer heruntergekommenen Anlage in einem Vorort von Orlando nach dem Rechten sehen muss.

Die eigentlichen Hauptdarsteller des Films sind aber Brooklyn Prince als Moonee, sechsjährige Anführerin einer rotzfrechen Kindergang, und ihre überforderte Mutter Hally (Bria Vinaite), als Trash Queen, die allen den ausgestreckten Mittelfinger zeigt und zweifelhafte Mittel nutzt, um sich und ihre Tochter über Wasser zu halten. Es ist absehbar, dass früher oder später das Jugendamt vor der Tür steht.

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Bild: Marc Schmidt

„The Florida Project“ ist sympathisch erzählt und zeigt, wie lebendig das Indie-Kino in den USA ist. Der ProKino-Verleih will den Kritikerliebling der „Quinzaine“-Reihe des Festivals in Cannes 2017 am 8. Februar 2018 in die Kinos bringen.

Noch mehr Hollywood-Prominenz war in „The Killing of a sacred deer“ von Yorgos Lanthimos versammelt: Dieses Highlight des Kinojahres gewann in Cannes die Palme für das Beste Drehbuch und besticht durch eine unkonventionelle Mischung surrealistischer Motive mit dem Iphigenie-Mythos der klassischen griechischen Antike.

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Bild: © Element Pictures

Nicole Kidman und Colin Farrell mimen ein wohlsituiertes Ärztepaar mit schönem Häuschen und zwei wohlgeratenen Kindern. In diese Idylle bricht der 16jährige Martin (Barry Keoghan in seiner zweiten großen Rolle nach „Dunkirk“) ein. 109 hochklassige Minuten lang entspinnt sich ein Mystery-Psychohorrorfilm. Die beiden Kinder der Vorzeigefamilie zeigen Lähmungserscheinungen und bekommen starke Blutungen.

Lanthimos verhandelt in seinem neuen Werk, das der Alamode-Verleih am 11. Januar 2018 in die deutschen Kinos bringen wird, die Fragen von Schuld und Sühne: Regiert das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn? Kann der Fluch nur durch ein Menschenopfer aufgehoben werden? Oder gibt es einen anderen Ausweg?

Kino-Zeit bemühte sich, den sehr individuellen Regiestil von Lanthimos als Mix aus „Hanekes intellektueller Brutalität, John Carpenters Horrorkino, Stanley Kubricks emotionaler Welt aus The Shining und Roy Anderssons absurdem Humor“ zu umschreiben. Auch wenn er jetzt mit internationalen Stars zusammenarbeit, hat seine Regiehandschrift nichts von ihrer Radikalität und kreativen Versponnenheit verloren, die schon „Dogtooth“ (2009) auszeichnete.

Eine außergewöhnliche Mischung aus Sozialdrama und Alien-Fantasy ist „La Región Salvaje/The Untamed“ des Mexikaners Amat Escalante, der in Venedig im September 2016 mit einem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Filmpate Dietrich Brüggemann staunte darüber, dass der Film in keine Schublade passt. Es ist nicht ganz einfach, den rätselhaft-verschlungenen Pfaden dieser Filmerzählung zu folgen, die von zwei Zeitungsausschnitten über ungeklärte Mordfälle inspiriert ist, wie Brüggemann berichtete.

Zum einen geht es um ein kompliziertes Dreiecksverhältnis einer Familie in Guanajuato, bei der lateinamerikanischer Machismo von queerer Lust und weiblicher Rache in die Mangel genommen wird. Zum anderen geistert ein Verwandter von Ridley Scotts „Alien“ durch diesen Film. Wie dieses Wesen seine Tentakel in seine Opfer bohrt, ist von Kameramann Manuel Alberto Claro glänzend fotografiert. Auch dieser Film soll im Frühjahr 2018 in den Kinos starten.

Mit dem bemerkenswerten Debüt „Ava“ (aus diesem Film stammen das Plakatmotiv des Festivals und Vorschaubild dieses Artikels) machte die französische Filmhochschul-Absolventin Léa Mysisus in Cannes auf sich aufmerksam. Ihr ebenfalls mit sehr symolischen Bildern aufgeladener Erstling erzählt von einem 13jährigen Mädchen (gespielt von Noée Abita), die in einem Sommerurlaub am südfranzösischen Meer nach und nach erblindet und zugleich die erste große Liebe erlebt. Da der Film wesentlich weniger klischeehaft konzipiert ist, als er auf den ersten Blick klingt, wurde er in Cannes mit dem SAD Preis der „Semaine de la Critique“ ausgezeichnet.

An Special Interest- Zielgruppen richten sich die beiden Filme mit Afrika-Bezug im Festival-Programm: Fellipe Barbosa erzählt in „Gabriel e a Montanha/Gabriel and the Mountain“ die Geschichte eines brasilianischen Freundes, der als Rucksacktourist um die Welt reiste und bei einer Bergtour in Malawai tödlich verunglückte, da er die grundlegendsten Sicherheitsvorkehrungen ignorierte. Gabriels Freundin Cristina war anschließend zum Filmgespräch in der Kulturbrauerei. Bemerkenswert an diesem bei der „Semaine de la Critique“ ausgezeichneten Werk sind vor allem die Landschaftsaufnahmen von Pedro Sotero und die akribische Recherche der Stationen dieses Unglücks anhand von Gabriels Social Media-Postings. Rungano Nyonis Debüt „I am not a witch“ ist eine recht schwer zugängliche Groteske. Im Zentrum steht die zehnjährige Shula, die als „Hexe“ gebrandmarkt wird und deshalb in ein Hexen-Lager gesperrt wird, wie sie in Sambia laut Programmheft tatsächlich existieren. Der Film macht sich darüber lustig, wie die Stammesältesten versuchen, aus ihren „Hexen“ und ihren angeblichen Zauberkünsten Kapital zu schlagen. „I am not a witch“ hatte in Cannes 2017 bei der „Quinzaine“-Reihe seine Premiere.

Aus der Türkei war Yeşim Ustaoğlu mit „Clair Obscur/Terredüt“ zu Gast. Dieses Drama über zwei Frauen aus ganz unterschiedlichen Schichten, die sich gegen autoritäre, patriarchale Strukturen und Wertvorstellungen ist zweifellos ein wichtiger Film.

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Bild: Ustaoglu Film

Künstlerisch bleibt er jedoch deutlich hinter den besten türkischen Festival-Filmen der vergangenen  Jahre zurück. „Clair Obscur“ erzählt, wie sich die Ärztin Chehnaz gegen ihren Mann, den Architekten Cem (Mehmet Kurtulus) zu wehren beginnt und wie eine verängstige junge Frau gegen die arrangierte Ehe und für ihr Recht auf Bildung eintritt. Wenn man bedenkt, dass in einer kurzen Szene auch noch das Thema Transgender-Geschlechtsumwandlung offen angesprochen wird, ist es schon erstaunlich, dass der Film in Erdogans Türkei nicht nur nicht verboten, sondern beim Festival in Istanbul für die Beste Regie ausgezeichnet wurde.

Harten italienischen Neorealismus bekommt das Publikum in „A Ciambra“ von Jonas Carpignano geboten. Das Sozialdrama über eine Roma-Familie, die sich mit kriminellen Deals über Wasser hält, wird von Italien ins Rennen um den Auslands-Oscar geschickt. Unter dem Titel „Pio“ wird der Film am 5. April in den deutschen Kinos starten.

Wie Film-Patin Meret Becker berichtete, kam dem Regisseur die Idee für dieses Werk, als ihm während eines Kurzfilm-Drehs der Wagen mit dem ganzen Equipment geklaut wurde. Auf der Suche nach seinem Auto, lernte er die Familie Amato und den 14jährigen Pio kennen, die gerade ihr Familienoberhaupt zu Grabe trugen und eine Art „Lösegeld“ für den gestohlenen PKW verlangten.

Ein weiterer Special Interest-Film war „A Skin so soft“ des Franco-Kanadiers Denis Côté, der den Körperkult von Bodybuildern porträtierte, in den knapp 90 Minuten aber nur geringen Erkenntnisgewinn bot.

Vorschaubild: f comme film

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