Bevor ich es vergesse

Ganz allein steht sie auf der Bühne der Münchner Kammerspiele: Wiebke Puls, eines der Aushängeschilder des Ensembles, seit 2005 am Haus, einer der festen Anker bei allen Umbrüchen, Stil- und Intendanzwechseln.

Sie kauert vor einer alten Vitrine, aus dem sie allerlei Überraschendes hervorholt: vergammelte Essensreste, Erinnerungen an die eigene Kindheit, eine Bluse der lange verstorbenen Mutter, die sie für einen ersehnten Tosca-Opern-Besuch kaufte, der nie in Erfüllung ging, und noch viel mehr Krimskrams.

Das sind die Hinterlassenschaften eines einsamen, alten Mannes: der Vater ist vor wenigen Tagen gestorben. Die Tochter Anne muss die Beerdigung organisieren und den Haushalt auflösen. Ein notwendiger Akt, wie ihn täglich viele Familien weltweit durchstehen.

Wiebke Puls nahm sich den autofiktionalen Roman „Bevor ich es vergesse“ von Anne Pauly vor, die ihr Debüt 2019 veröffentlichte und vom französischen Publikum zum Buch des Jahres gewählt wurde. 2024 erschien die deutsche Übersetzung bei Luchterhand und ein Hörbuch, das Puls las. Diese Vorgeschichte ist dem Abend noch anzumerken, da eingespielte Sounds und Geräuschkulissen auch diesen Theater-Monolog beleben.

Der Roman von Pauly steht in der Tradition ihrer bekannteren Landsleute Annie Ernaux und Édouard Louis, die eigene Erlebnisse mit allgemeinen Reflexionen über den Zustand der Gesellschaft verbindet. Auch hier steht ein schwieriges Verhältnis zu den Eltern im Mittelpunkt, der Vater ist Alkoholiker mit den für diese Suchterkrankung üblichen Gewaltausbrüchen, unter denen die gesamte Familie litt.

In ihrer gekürzten Fassung, die Puls selbst erarbeitete, konzentriert sie sich ganz auf die Ambivalenz dieses Tochter-Vater-Verhältnisses: trotz aller Wut über die Kindheit/Jugend in einer dysfunktionalen Familie und des Schmerzes über die erlittene Gewalt ist sie zu einer zärtlichen Wiederannäherung an den Schwerkranken und schließlich Verstorbenen bereit, die in den melancholischen Céline Dion-Song „Parler à mon père“ mündet.

In den etwas mehr als zwei Stunden bietet Wiebke Puls einen sehr konzentrierten Monolog, der vor allem bei den älteren Zuschauer*innen sehr gut ankommt, die Barbara Mundels Haus zurückerobert. Klassisches Schauspiel, virtuos vorgetragen. Puls hat auch einige Nebenfiguren aus dem umfangeicheren Roman in ihre Fassung gerettet. Auch diese verkörpert Puls natürlich selbst. Zwischen all den schweren Themen von Krankheit, Abschied und Tod gelingen ihre kleine Comic Relief-Momente, wenn sie z.B. den schwer ächzenden alten Pfarrer auftreten lässt, der während der Beerdigungs-Zeremonie einschläft.

„Bevor ich es vergesse“ hatte am 8. Oktober 2025 im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele Premiere. 

Bild: Armin Smailovic

 

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