Das Gorki startet unter der neuen Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje mit dem rebellischen Kampfgeist und der Aggressivität ins neue Jahr, die Claus Peymann am Berliner Ensemble gerne verbalradikal ankündigt, aber schon lange nicht mehr einlöst.
Anderthalb Stunden lang weiß man bei Falk Richters Small Town Boy-Inszenierung, einer als Rechercheprojekt angekündigten Arbeit, nicht so recht, woran man ist. In kurzen assoziativ aneinandergereihten Szenen werden Liebes- und Lebenskonstellationen abgehandelt: die Bindungsangst und -unfähigkeit in der Anonymität der Großstadt, wo jeder an seinen Projekten arbeitet, wird karikiert. Die Frustration der Hausfrauen in der Provinz wird aufs Korn genommen. Ein Beziehungsstreit eines deutsch-türkischen homosexuellen Paares entzündet sich an der Frage, ob der junge Türke den Mut aufbringt, seinen Freund bei der Hochzeit der Schwester der Großfamilie vorzustellen. Nach einem One-Night-Stand filmt der eine den anderen in einem Video-Interview. Eine Managerin liest aus Shades of Grey, mischt eigene Phantasien und Anspielungen auf die Kanzlerin darunter. Weitere Einsprengsel aus der Populär-Kultur (Kelly Family und ARD-Soap Verbotene Liebe) kommen hinzu.
Vieles wirkt unfertig, die Inszenierung nimmt sich selbst auf die Schippe (eine Schauspielerin fragt ihren Kollegen sinngemäß: Spielst Du auch richtige Tragödien? Oder machst Du nur so „komische assoziative Projekte“?).
In diesem ersten Teil halten dennoch einige feinsinnige, komische Beobachtungen und schöne Balladen, meistens von Mehmet Atesci gesungen, das Publikum bei Laune… Bis sich Thomas Wodianka in eine Wutrede hineinsteigert, wie man sie auf Berliner Bühnen lange nicht gehört hat. Er rechnet in aller Schärfe mit Putins homophoben Strafgesetzen ab, macht sich über seine Männlichkeits-Inszenierung mit nacktem Oberkörper in der Tundra lustig und tobt gegen die Opern-Diva Anna Netrebko („Diktatorenflittchen“), die für ihn Wahlkampf macht und seine Politik schön redet. Falls Angela Merkel, die nur einige Schritte entfernt wohnt, oder Frank-Walter Steinmeier, dessen neuer, alter Amtssitz am Werderschen Markt auch fast um die Ecke liegt, den Weg in diese Inszenierung finden sollten, dürfen sie sich auf harte Vorwürfe zur deutschen Russland-Politik gefasst machen.
Danach wendet sich Wodianka der deutschen Innenpolitik zu, erinnert an Alexander Dobrindt, als Bundesverkehrsminister auch fester Bestandteil der GroKo, und seine Versuche, mit Äußerungen über die schrille Minderheit die Lufthoheit über den bayerischen Stammtischen zu sichern. Nach einem Schlenker gegen Ilse Aigner und ihr Interview in einer Springer-Zeitung gipfelt Wodiankas von heftigem Szenenapplaus unterbrochene Suada in der Forderung, dass Erika Steinbach von ihrem Amt als Sprecherin für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in der CDU/CSU-Fraktion zurücktreten soll.
Mit einer Schluss-Ballade glätten sich die Wogen auf der Bühne wieder etwas, aber diese Inszenierung hat das Potenzial, mit seinen scharfen Angriffen noch einigen Staub aufzuwirbeln.
Die Premiere war am 11. Januar 2014
Bild: Esra Rotthoff
Pingback: Revuen zu Genderfragen und Westberliner Insulanern; Protestkultur und „Wunderkammer“-Varieté › kulturblog @ /e-politik.de/
Pingback: „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ am Gorki: Unaufgeräumter Gefühlshaushalt zwischen Berlin, Moskau und Baku › kulturblog @ /e-politik.de/
Pingback: „In unserem Namen“: Gorki widmet sich mit Jelinek und Aischylos der Angst vor Überfremdung › kulturblog @ /e-politik.de/