My Little Antarctica

Eigentlich hätte das Berliner Publikum „Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica)“ schon im März 2020 sehen dürfen. Doch bekanntlich legte der Corona-Lockdown damals das gesamte gesellschaftliche und kulturelle Leben lahm. Die Zeiten wurden seitdem nicht ruhiger: Wladimir Putin startete im Februar 2022 nach jahrelang schwelendem Krieg im Osten des Landes den Angriff auf die gesamte Ukraine. Tatiana Frolova und ihr kleines Ensemble vom KnAM Theater flohen ins Exil nach Lyon und holten das FIND-Gastspiel in der Schaubühne in dieser Woche mit einer überarbeiteten Version nach.

Komsomolsk am Amur, wo das Stück 2019 entstand, liegt im östlichsten Winkel Russlands, wie wir in einem Einspieler erfahren. 8.500 km von Moskau entfernt, fliegt man bis zur nächst größeren Stadt und macht sich dann mit dem Auto auf den Weg durch Sibirien, so dass eine Autopanne bei – 40 Grad lebensgefährlich werden kann, wie ein Spieler plastisch schildert.

Zu dem Zeitpunkt hat das Publikum aber schon einiges hinter sich: es startete mit Wladimir Putin vor großer Kulisse, der zum Tag des Theaters von der Größe russischer Kultur schwärmte, und sprang als assoziative Collage zwischen kleinen Comedy-Einlagen hinter Masken, eingespielten Märchensequenzen aus Hans Christian Andersens „Die Schneekönigin“ und viel Dokumaterial.

Munter mischt „My little Antarctica“ die Genres, springt zwischen den Zeiten von Lenin über Stalin bis in die Gegenwart hin und her. Mancher hübsche Einfall rauscht in den 100 Minuten vorbei, allein es fehlt in dieser Produktion des ersten freien Theaters, das 1985 zu Gorbatschows Perestroika und Glasnost-Zeit in der UdSSR gegründet wurde, eine sortierende, ordnende Hand.

Die Botschaft wird klar ausgesprochen: die Lage in Putins Russland ist noch schlimmer als zu Stalins Zeiten. Historische Vergleiche hinken immer, aber dass die Lage alles andere als rosig und hoffnungsvoll ist, ist unbestritten.

Dieses Gastspiel eines exilrussischen Ensembles war tatsächlich eine der gelungeneren Produktionen im aktuellen FIND-Jahrgang und stärker als die darauffolgende Enttäuschung: der britische Dramatiker Martin Crimp legt aus dem Off, später vom Bühnenrand einer schier endlosen Folge von Gesichtern manchmal ganz witzige, oft nur banale Sätze in den Mund. All diese Personen sind nur eine Erfindung der KI. „Not one of these people“ ist als kleine Spielerei für dreißig Minuten ganz reizvoll, gerät aber über 100 Minuten so redundant, dass viele Zuschauer den Saal gelangweilt vorab verlassen. Regie führte bei dieser Koproduktion von Royal Court Theatre (London), Carte blanche (Québec City) & Carrefour international de théâtre (Québec City) der Kanadier Christian Lapointe.

Bild: Julie Cherki

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