Fast vergessen ist das Scheidungskind-Drama „Ikarus“, das Heiner Carow, einer der bedeutendsten DEFA-Regisseure, während einer kurzen Tauwetterphase 1975 drehte. „Die Legende von Paul und Paula“, mit der er 1973 seinen Durchbruch hatte, ist bis heute ein Kultfilm. „Ikarus“ fristete hingegen beim Kinostart vor 50 Jahren ein Nischendasein im Kinder-Nachmittagsprogramm und verschwand bald von den Leinwänden bis auf als Geheimtipp in Filmclubs.
Als Kinderfilm labelten Regisseur Carow und sein Drehbuch-Co-Autor Klaus Schlesinger das Drama um den 9jährigen Matthias ganz bewusst. Zurecht konnten sie hoffen, dass der Film dann stärker unter dem Radar der Zensur bleibt. Bis zur Grenze loteten sie die wenigen Freiräume aus, die es kurz nach Erich Honeckers Amtsantritt bis zur Biermann-Ausbürgerung gab.
Ein Kind (Peter Welz als Matthias) spielt zwar die Hauptrolle, aber kindgerecht ist der Film ganz und gar nicht. Schonungslos zeigt „Ikarus“ den Schmerz des 9jährigen über die Vernachlässigung durch seinen Vater (Peter Aust), der nach der Scheidung immer wieder leere Versprechen macht.
„Ikarus“ wurde für die „Prenzlauerberginale“ im Filmtheater am Friedrichshain ausgegraben, bei der Klassiker und Raritäten präsentiert werden. Eine lohnende Entdeckung aus mehreren Gründen: „Ikarus“ funktioniert auch fünf Jahrzehnte später als Drama über die Themen Vernachlässigung in Familien und Scheidung. Darüber hinaus ist es aber eine zeitgeschichtliche Entdeckungsreise. Carow/Schlesinger setzten viele kleine Spitzen. Das Thema mangelnde Reisefreiheit zieht sich als roter Faden durch den Film und rückt mit aller Wucht ins Zentrum, als Matthias auf der verzweifelten Suche nach dem Vater die Absperrungen auf dem DDR-Zentralflughafen Schönefeld durchbricht und auf dem Polizeirevier landet. Sehr deutlich werden auch die Material-Engpässe auf einer Baustelle thematisiert. Schon das Grundthema einer zerbrechenden Familie passte nicht ins staatlich verordnete Bild als Keimzelle einer starken, optimistischen, sozialistischen Gesellschaft. Immerhin verkniffen sich die Drehbuchautoren die schlimmstmögliche Wendung. Während die Hauptfigur in der zugrundeliegenden Erzählung „Neun“ stirbt, ist das Ende im Film offener.
Aus heutiger Sicht gibt es noch zwei interessante Randaspekte: die großartige Liedermacherin Bettina Wegner, die damals mit Schlesinger verheiratet war und mit ihm eine Reihe im Haus der jungen Talente organisierte, die der Staatsführung auch bald ein Dorn im Auge war, singt „Ich will“, das den Film rahmt. Die Mutter des Jungen spielt Karin Gregorek, die am Gorki Theater engagiert war und zu der Zeit oft in DEFA-Nebenrollen auftrat. Ein breiteres Publikum kennt sie auch als Nonne aus der ARD-Serie „Um Himmels Willen“.
Bild: Norbert Kuhröber/DEFA-Stiftung