Sprühend vor Ideen jongliert der chilenische Regisseur und Drehbuchautor Diego Céspedes in seinem Debüt mit Motiven und Genre-Anspielungen, die locker für drei Filme gereicht hätten. „Der geheimnisvolle Blick des Flamingo (Original: La misteriosa mirada del Flamenco)“ will ganz viel gleichzeitig sein. Besonders überzeugend gelingt ihm das queere Empowerment: wir erleben eine Transgender-Wahlfamilie in einem abgelegenen chilenischen Bergarbeiterstädtchen 1982, die sich geschlossen und energisch gegen alle Angriffe zur Wehr sitzt.
Oberhaupt der Wahlfamilie und Chefin des Etablissements, in dem sie auftreten, ist Mama Boa (gespielt von der chilenischen Schauspielerin und Transgender-Aktivistin Paula Dinamarca). Schillerndstes Geschöpf in der illustren Runde ist der schwerkranke, schon in der ersten Szene hustende Flamingo (Matías Catalán), der die 11jährige Lidia (Tamara Cortés) unter seine Fittiche genommen hat. Als sie von einer Jungs-Gruppe gemobbt wird, schlägt der Clan zurück.
In die Welt des magischen Realismus begeben wir uns mit der fixen Idee der Bergarbeiter, dass Flamingo eine Seuche weiterverbreitet, allein durch die Kraft seines Blicks. Natürlich ist das ein Aberglaube, der an mittelalterlichen Hexenwahn erinnert. Die medizinische Erklärung, die eine Figur kurz vor Schluss ausspricht, ist, dass sie sich mit Sperma beim Anal-Verkehr ansteckten. Es liegt auf der Hand, dass Céspedes hier mit einer Parabel an die AIDS-Krise der 1980er Jahre erinnert, als auch in Deutschland einige Politiker von einer göttlichen Strafe für sündiges, promiskes Treiben fabulierten.
Der gestrige Weltaids-Tag war deshalb der passende Termin für die doppelte Berlin-Premiere: „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ lief sowohl im Rahmen des WCF-Berlinale-Specials von Around the World in 14films als auch beim MonGay der Yorck-Gruppe.

Der 1995 geborene Céspedes jongliert aber noch mit viel mehr Genres: Rache-Western und Melodram sind weitere wichtige Zutaten dieses Erstlings, das viel wagt und noch nicht alle Fäden und Motive schlüssig zusammenführt. Dennoch ist dieser Debütfilm sehenswert. Bei der Premiere in der Sektion Un certain regard in Cannes im Mai 2025 gewann er gleich den Hauptpreis in dieser Reihe. Es folgten zahlreiche weitere Festival-Einladungen (u.a. Busan, Hamburg, Karlovy Váry, San Sebastian mit dem Preis der Jugendjury, Toronto) und die Nominierung als chilenischer Kandidat für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
Die Filmreederei bringt „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ am 4. Dezember 2025 in die Kinos.
Bilder: Filmreederei GmbH