Wallenstein

Virtuos spielt Jan-Christoph Gockel in diesen mehr als sieben Stunden mit den Genres des Theaters: Klassikerpflege des Weimarer Nationaldichters Schiller steht neben klugem Recherchetheater von Sergej Okunev zur russischen Wagner-Gruppe. Mitmach-Events wie einst bei Christopher Rüpings „Dionysos Stadt“ treffen auf kleine Puppenspiel-Einlagen von Michael Pietsch oder Comedy-Kabinett-Stückchen von Katharina Bach/Johanna Eiworth.

Es droht den Rahmen zu sprengen, alle Facetten dieses überbordenden Theaterabends nachzuzeichnen. Weit weg von Schiller scheint der Abend zu Beginn: im Jogging-Anzug kommt Sergej Okunev auf die Bühne, im charmant-witzigen Nils Kahnwald-Stil plaudert er sich an sein Thema heran: das Schicksal von Jewgeni Prigoschin, einer ähnlich schillernden Figur wie Wallenstein. Beide waren Söldner-Führer, beide gerieten mit ihren Dienstherrn (dem Kaiser in Wien bzw. dem neuen Zaren Wladimir Putin in Moskau) aneinander, für beide endete es tödlich. In kleinen Intermezzi schildert der Exil-Russe Okunev, der sich aus Angst vor Repressionen einen Zaubermantel wie Harry Potter überwirft, die überraschenden Wendungen in Prigoschins Leben, vom Self-Made-Mann nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums über Putins Koch und seinen Mann für Spezialeinsätze weltweit bis hin zum vermutlich gar nicht so rätselhaften Flugzeugabsturz.

Doch bald kommt bei diesem „Schlachtfest in sieben Gängen“ auch sehr viel O-Ton Schiller in gekürzter Form zur Aufführung. Vor allem Annette Paulmann, eine der langgedienten Säulen des Ensembles der Kammerspiele, als Octavio Piccolomini, und der seit missglücktem „Wetten, dass?“-Stunt querschnittsgelähmte Samuel Koch sprechen die Verse so gekonnt, dass sie nicht aus der Zeit gefallen klingen. Die Leistung des künstlerischen Teams um Jan-Christoph Gockel ist es, dass sie kluge Anschlüsse von der klassischen Tragödie in die Gegenwart finden. Was kurz vor Weihnachten am DT Berlin bei Claudia Bossards „Räubern“ daneben ging und in ratlosen Witzchen endete, wird hier zu einem gelungenen Panorama aus Doku- und Recherche-Theater, Kabarett über toxische Männlichkeit und Mitmach-Event, das alles gleichberechtigt neben den Schiller-Passagen steht.

Für den Spott über toxische Männlichkeit sind an den Kammerspielen vor allem Katharina Bach und Johanna Eiworth zuständig. Erstere legt im Muscle-Suit eine furiose Nummer hin, wie sie wimmernd auf der Suche nach dem Strap-On und der verlorenen Männlichkeit über den Boden kriecht. Zweitere karikiert den Möchtegern-Strategen, dem in vielen Anläufen erklärt werden muss, wie die geplante Intrige laufen soll.

Die stillen, kleinen Momente in diesem ebenso langen wie oft lauten und im ersten Akt völlig unnatürlich mit bestialisch stinkendem Qualm nervendem Theater-Marathon gehören Puppenspieler Michael Pietsch, der seit vielen Jahren eng mit Gockel arbeitet. Eine Mini-Version von Samuel Kochs „Wallenstein“ lässt er über die Schultern und durch die Frisuren des Publikums tanzen. Das Publikum ist auch sonst gefordert: als Gäste der großen Party im Kriegslager, als Ehrengäste an der Pausen-Tafel.

Dies müssen aber einige damit bezahlen, dass sie zwangsrekrutiert werden, die tumben Texte von Söldners zu lesen, mit denen der Schlussakt beginnt. Auch Passanten der Maximilianstraße werden unfreiwilig einbezogen, wenn ihnen in einer live übertragenen Szene das Mikro unter die Nase gehalten und ihr Wissen abgefragt wird.

Aus all diesen Zutaten entsteht ein bemerkenswerter Theater-Abend, der einen Klassiker klug in die Gegenwart übersetzt, und eine Einladung nach Berlin sehr verdient hätte, wenn die Theatertreffen-Jury in knapp zwei Wochen tagt.

Bilder: Armin Smailovic

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