Ibsens „Volksfeind“ an der Schaubühne revisited: das Streitgespräch mit dem Publikum nimmt Fahrt auf

Thomas Ostermeiers Inszenierung von Henrik Ibsens Ein Volksfeind hat mittlerweile zwei Jahre und einige Monate sowie umfangreiche Gastspielreisen auf dem Buckel. Nach der Uraufführung in Avignon war die Berliner Kritik nach der Heimpremiere an der Schaubühne sehr kritisch. Der Tenor war, dass es dem Stück an Tiefgang mangele, der Tagesspiegel meckerte, dass der Abend in solider Boulevardtheatermanier runtergespielt worden sei.

Wie wirkt das Stück heute? Die Besetzung hat sich leicht geändert, zum Beispiel übernahm Christoph Gawenda die Rolle des Kurarztes Dr. Stockmann von Stefan Stern. 2012 spielte er noch einen der opportunistischen Lokaljournalisten. Am auffälligsten ist, dass die Idee, im 4. Akt das Saallicht anzumachen und das Publikum in eine Diskussion über die Brandrede des Kurarztes Dr. Stockmann, der den Kleinstadt-Eliten Korruption, Gier und gesundheitsgefährdenden Pfusch vorwirft, erstaunlich gut funktioniert. Der Deutschlandfunk lag mit seiner Prognose genau richtig: Vielleicht muss Ostermeier aber für seine Demokratiedebatte einfach nur ein normales Berliner Publikum abwarten, eines ohne Kritiker und Kulturbetriebsroutiniers, meinte Eberhard Spreng nach den trägen Reaktionen der Premierengäste, die sich nicht auf das Streitgespräch einließen.

Gar nicht vorweihnachtlich besinnlich, sondern engagiert ließ sich das Publikum auf die Diskussion ein. Neben Alt-68ern, die eine neue APO forderten, ergriffen auch einige jüngere Zuschauer das Mikrofon und Partei für Stockmann. Wie zu hören und zu lesen war, ging es im 4. Akt auch bei den meisten Gastspielen, vor allem in Gesellschaftssystemen im Umbruch, sehr hoch her. Dabei ist der Fremdtext, den Gawenda alias Stockmann in seinen flammenden Appell einbaut, nicht mehr taufrisch. Die Inszenierung, die auf dem Höhepunkt der Euro-Krise und der Occupy-Proteste entstand, flocht den anonymen Essay Der kommende Aufstand, der vor einigen Jahren im Netz zirkulierte, in Ibsens Drama ein.

Eine interessante Frage ist, wie dieses Stück wohl ausgefallen wäre, wenn es ein Jahr später Premiere gehabt hätte? Hätte Ostermeier bei seinen Aktualisierungsversuchen einen Bogen zum Whistleblower Edward Snowden geschlagen, der ebenso wie Stockmann alle Sicherheiten riskiert, um aus dem System heraus auf gravierende Missstände hinzuweisen?

Das Fazit zwei Jahre nach der Premiere fällt eher positiv aus: Mit Ein Volksfeind konnte Ostermeier zwar keinen so großen Wurf wie mit seiner Nora-Inszenierung landen. Aber es wäre ungerecht, den Abend als nur gut gemachtes Boulevardtheater abzutun. David Bowies von den Schauspielern mehrfach angestimmtes Changes transportiert die Stimmung der Figuren, die zwischen Rebellion und Anpassung schwanken, als gelungener Soundtrack. Aus dem Ensemble überzeugen vor allem Ingo Hülsmann als selbstgefälliger, alle Kniffe des politischen Geschäfts kennender Stadtrat und Moritz Gottwald, der den opportunistisch-umfallenden Lokaljournalisten Billing sehr unterhaltsam verkörpert.

Vor allem bleibt der Funke in Erinnerung, der trotz zweieinhalb Stunden ohne Pause in den politischen Diskussionen im 4. Akt auf das Publikum übersprang.

Ein Volksfeind von Henrik Ibsen. – Regie: Thomas Ostermeier. – Dauer: ca. 2,5 Stunden ohne Pause. – Berliner Premiere an der Schaubühne: 8. September 2012, zuvor bereits beim Festival in Avignon aufgeführt

Bild: Arno Declair

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