Aus dem Nachlass von Christa Wolf“: Dagmar Manzel liest aus den „Moskauer Tagebüchern“

Aus dem Werk der 2011 verstorbenen Christa Wolf lohnen sich nicht nur ihre bekannten Romane und Erzählungen wie Kassandra oder Der geteilte Himmel. Ihr 2003 veröffentlichter Band Ein Tag im Jahr dokumentierte, dass sie auch in ihren Tagebucheinträgen eine sehr wache Analytikerin des Zeitgeschehens war. Die gelungene Mischung aus melancholischen Betrachtungen, genauen Charakterisierungen ihrer Gesprächspartner und politischen Reflexionen machten diesen umfangreichen Band zu einem Lese-Vergnügen.

Deshalb durfte das Publikum auf einen neuen Sammelband von Tagebuch-Aufzeichnungen gespannt sein, den der verwitwete Gerhard Wolf gemeinsam mit dem Suhrkamp-Verlag edierte und mit umfangreichen Anmerkungen versah. Dieses recht schmale Buch widmet sich ausschließlich den zehn Reisen nach Moskau, die Christa Wolf meist zusammen mit ihrem Mann und häufig gemeinsam mit DDR-Funktionären zwischen 1957 und Oktober 1989 in die damalige sowjetische Hauptstadt unternahm.

Die Präsentation dieser Neuerscheinung litt daran, dass das kleine Podium auf der Bühne etwas überladen war: Nach der Einführung durch Ulrich Khuon, den Intendanten des Deutschen Theaters, liefen die Absprachen zwischen Gerhard Wolf, Dagmar Manzel, Tanja Walenski, die an der Edition mitgearbeitet hat, und Dr. Thomas Sparr vom Suhrkamp-Verlag nicht reibungslos. Auch die ersten beiden Texte waren nicht ganz glücklich ausgewählt: statt interessanter essayistischer Passagen dominierten lange Aufzählungen der Namen russischer Funktionäre, mit denen es das Ehepaar Wolf zu tun hatte und die Erinnerungen an ähnliche Abschnitte in Tolstois Krieg und Frieden wach werden ließ.

Der beste Text kam zum Schluss: Christa Wolfs Eindrücke von ihrer Moskau-Reise im Oktober 1989, als es in der DDR gärte, sie sich Sorgen um ihre nach Protesten in Ost-Berlin verhaftete Tochter machte und darum bangte, ob die Montagsdemos in Leipzig friedlich bleiben würden. Gespräche mit dem Politbüro-Mitglied Kurt Hager und einem Madrigal-Chor bilden ein hörens- und lesenswertes Mosaik aus den letzten Monaten eines untergehenden Staates.

Zu den interessanteren Textausschnitten dieser Matinee in den Kammerspielen des Deutschen Theaters gehörten außerdem noch die Schilderung einer Stadtführung eines Dostojewski-Enkels auf den Spuren von Raskolnikoff aus Schuld und Sühne durch das Leningrad des Jahres 1968 und eine lustige Montage der Tagebucheinträge von Max Frisch und Christa Wolf, die beide im selben Jahr an einer von der UdSSR organisierten Feierlichkeit zum 100. Geburtstag von Maxim Gorki teilnahmen und sich über die unfreiwillige Komik des Events lustig machten.

Christa Wolf: Moskauer Tagebücher – Wer wir sind und wer wir waren. – Herausgegeben von Gerhard Wolf. – Suhrkamp, 2014, 266 Seiten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert