„Schnee“ sehr frei nach Orhan Pamuk am Gorki: Hessische Pegida-Polonaise statt türkischer Kopftuch-Debatte

Einen mehr als fünfhundert Seiten dicken Roman auf die Bühne zu bringen und sich dafür weniger als zwei Stunden Spielzeit zu nehmen, ist ein gewagtes Unterfangen, vor allem, wenn es sich um ein so facettenreiches Werk wie Orhan Pamuks Schnee handelt. Die Hauptfigur Ka, ein erfolgreicher Publizist in Frankfurt, kommt zurück in sein Heimatstädtchen. Die Verhältnisse sind völlig aus dem Lot geraten, die Suizidwelle junger „Kopftuchmädchen“ (wie es in satirischer Aneignung des Sarrazin-Jargons mehrfach heißt) ist nur die Spitze des Eisbergs. Im hessischen Karsberg sind die Angstphantasien der Dresdner-Pegida-Demonstranten Wirklichkeit geworden.

Zwei Lager mit gleichermaßen dubiosen Anführern stehen sich unversöhnlich gegenüber: hier der Islamist Grün (Dejan Bućin, den das Gorki-Publikum aus Common Ground kennt), dort der Bürgermeister Herbert von der Initiative „Freies Karsberg“ (Godehard Giese). Ähnlich gehetzt und zunehmend orientierungslos wie sein Fast-Namensvetter aus Kafkas Parabeln und Romanen schlägt sich Ka (Mehmet Yilmaz) durch Begegnungen mit „lauter Verrückten“, wie er einmal fast schon resignierend feststellt.

Hier zeigt sich das Grundproblem dieser Roman-Adaption: Ka stolpert ständig in neue Begegnungen, in dem Gewusel aus Figuren und Gewirr von Stimmen verliert man schnell den Überblick. Statt klarer Konturen der Figuren erlebt das Publikum kurze, sich doch immer wieder ähnelnde Szenen. Über allem senkt sich ein schwerer Quader immer weiter herab, bis er den Bewohnern von Karsberg jeden Bewegungsspielraum und fast auch die Luft zum Atmen nimmt.

Regisseur Hakan Savaş Mican führt die verfeindeten Lager satirisch vor. In Erinnerung bleibt z.B. ein gut gemeintes Benefiz-Konzert gegen den Islamismus im Gemeindezentrum des Städtchens, das in seiner Hilflosigkeit fast schon rührend ist. Voller Inbrunst schmettert das Gorki-Ensemble den Scorpions-Hit Wind of Change und kann doch weder uns noch sich selbst darüber hinwegtäuschen, dass die gesellschaftliche Grundstimmung im Jahr 2015 viel düsterer ist als in der Euphorie der Wendejahre 1989 ff., als manche das Ende der Geschichte ausriefen und die Gegner der Demokratie für besiegt hielten. Ähnlich lächerlich wirkt aber auch die Gegenseite in ihrer hilflosen Wut, unfähig sich klar zu artikulieren und bei einer grotesken Pegida-Polonaisen-Performance, wo der Text des Karnevals-Stimmungs-Hits überhaupt nicht zu den grimmigen, verhärmten Gesichtern passt.

Die Idee, sich mit Pegida zu befassen und ein Szenario durchzuspielen, wie es auch Michel Houllebecq in seinem zu Jahresbeginn erschienenen Roman Unterwerfung beschrieb, liegt nach den hitzigen Debatten der vergangenen Monate auf der Hand und hätte auch zu einem interessanten Abend führen können. Dafür wäre es aber vermutlich besser gewesen, eine andere Vorlage zu nehmen oder einen ganz neuen Stoff zu entwickeln, als den hier nicht recht geglückten Versuch zu unternehmen, das Gerüst einer sehr komplexen Romanhandlung aus dem türkischen Kars in das nordhessische Karsberg zu verlegen und sich sehr frei bei einigen Motiven des Buches zu bedienen. So verliert sich der Abend in zu vielen kleinteiligen Szenen und wirkt „seltsam brav und richtungslos“, wie Patrick Wildermann im Tagesspiegel schrieb.

Schnee frei nach Motiven des gleichnamigen Romans von Orhan Pamuk. – Regie: Hakan Savaş Mican. – Mit: Nora Abdel-Maksoud, Tamer Arslan, Dejan Bućin, Lea Draeger, Godehard Giese, Mehmet Yılmaz. – Premiere am Gorki: 11. April 2015. – Ca. 100 Minuten ohne Pause

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