Mit sehr hoher Schlagzahl starten die Berliner Theater in die neue Spielzeit: drei Premieren an zwei aufeinanderfolgenden Abenden.
Akrobatische Höchstleistung, prekäre Existenzen, aber keine runde Geschichte: „Ghosts“ an der Schaubühne
Nach knapp zwanzig Minuten stürmt Regisseurin Constanza Macras – mit Intendant Thomas Ostermeier an ihren Fersen – auf die Bühne und ruft „Stop!“ Die drei chinesischen Artistinnen im Hintergrund nehmen davon keine Notiz. Sie balancieren unbeirrt und hochkonzentriert weiter mit ihren Stangen und Tellern – so wie es auch schon zu Maos Zeiten üblich war, wie eine Anekdote im weiteren Verlauf des Abends berichtet: Als das Revolutionäre Komitee Shanghai beschloss, eine Gruppe mit traditioneller chinesischer Akrobatik zu einem Gastspiel in die USA zu schicken, wurde den Künstlern von den politischen Kadern eingeimpft, „unsere Aufführung in jedem Fall zu Ende zu bringen, selbst wenn Leute Gegenstände auf die Bühne werfen sollten.“
Am Premierenabend von Ghosts handelte es sich nur um eine kleine technische Panne: der Beamer war ausgefallen. Als Constanza Macras mit einem energischen „Girrrls!“ dafür gesorgt hatte, dass die Mädchen ihre Performance unterbrachen, konnte das Stück an der Schaubühne noch mal von vorne beginnen: zwei gellende Schreie, dann der erste Auftritt des jungen Chinesen, der seinen Waschbrettbauch an diesem Abend so stolz präsentierte, und ein langer Monolog eines kleinen Mädchens.
Da der Beamer im zweiten Anlauf funktionierte und die Übersetzung an die Wand projizierte, konnte nun auch jeder ohne Chinesisch-Sprachkenntnisse problemlos verfolgen, worauf der Abend hinauswollte: Constanza Macras und ihr Dorky Park-Ensemble beklagen gemeinsam mit ihren chinesischen Gästen das prekäre Leben chinesischer Akrobaten: nach jahrelangem Drill werden sie oft schon mit Mitte Zwanzig zum alten Eisen abgeschoben.
Mit einigen Anekdoten, aber auch mit interessanten Fakten z.B. über die Tricks, mit denen chinesische Familien die Ein-Kind-Politik des Regimes zu umgehen versuchen, indem sie Neugeborene heimlich zu anderen Familien abschieben, beleuchtet der Abend gesellschaftliche Missstände.
Die Monologe und Info-Häppchen werden von beeindruckenden artistischen Höchstleistungen zusammengehalten. Als eine zierliche Artistin den schweren Tisch in der Schluss-Nummer auf ihren Beinen balanciert, können einige gar nicht mehr hinsehen. Die Angst, dass eine weitere Panne diesmal lebensgefährliche Konsequenzen haben könnte, wurde zum Glück nicht Realität.
Das ganze Ensemble versammelt sich wohlbehalten zum Applaus und verabschiedet das Publikum nach einem langen Abend mit dem Gefühl in die Nacht: Respekt vor diesen körperlichen Höchstleistungen! Der rote Faden blieb aber etwas dünn, von Constanza Macras haben wir schon stärkere Abende gesehen.
Ihren Ghosts ist jedoch zugutezuhalten, dass das Publikum mehr über die politische und soziale Lage erfuhr als beim Gespräch zwischen Ai Weiwei und Liao Yiwu in der Philharmonie am Abend zuvor. Das 15. internationale literaturfestival berlin organisierten diese Vorveranstaltung noch auf die Schnelle vor dem Start des Festivals in der kommenden Woche, nachdem Ai Weiwei im Juli überraschend von den chinesischen Behörden seinen Pass zurückbekommen hatte.
Die beiden berühmten Dissidenten hatten sich darauf geeinigt, den Moderator Wolfgang Herles wieder auszuladen, und das Gespräch mit zwei Dolmetschern allein zu führen. Statt eines interessanten Austauschs über die Probleme Chinas kam leider nur ein surrealer Schlagabtausch heraus, der darin gipfelte, dass Ai Weiwei seinem Gesprächspartner, dem Friedenspreisträger Liao Yiwu, der seit fünf Jahren in Berlin lebt, mehrfach ein Alkoholproblem unterstellte.
Der missglückte Kommunikationsversuch zwischen den beiden chinesischen Künstlern ließ das Publikum ratlos zurück. Den Spannungen zwischen den beiden Herren versuchte ein FAZ-Veranstaltungsbericht auf den Grund zu gehen. Positiv blieben von diesem Abend nur ein Gedicht über China als ein Land „im Winterschlaf“ und „ohne Nährstoffe“, das Liao Yiwu in einer kurzen Pause vortrug, und seine Vertonung von Herta Müllers Atemschaukel in Erinnerung.
„Götter“ im DT-Probebühnenzentrum: Sketche, Suppe, Speed-Dating und Schauspielstar als Schlachtopfer
Zehn Schauspieler aus sechs Ländern sollten fünf Szenen frei nach der Ring-Parabel aus Lessings Nathan der Weise erarbeiten: so lautete die neue Aufgabe beim Mitos21-Projekt.
Den Auftakt im Probebühnenzentrum des Deutschen Theaters Berlin machte der dänische Regisseur Nielsen, der mit Moritz Grove (aus dem DT-Ensemble) und Özlem Cosen, einer frei schaffenden Schauspielerin aus Berlin, vor Laptops an langen Tischen saß: Zunächst wurde per Handzeichen die Religionszugehörigkeit der Zuschauer abgefragt. Da sich ca. 30 von den mehr als 100 Zuschauern gar nicht beteiligten, wurde das Publikum von dem Trio ermahnt, doch bitte etwas kooperativer zu sein. Anschließend feuerten sie ihr Provokations-Stakkato mit allen gängigen Klischees gegen Juden, Christen und Muslime ab: ein Ton, den man vom Deutschen Theater nicht gewohnt war. So rotzig war höchstens Dimitrij Schaad am Gorki bei seinem Kollegen-Bashing in Yael Ronens Kohlhaas-Prinzip.
Anders als bei der Premiere gab es am zweiten Abend aber nur einen kurzen, pflichtschuldig wirkenden Protestversuch. Leider war auch das Timing dieses Sketches nicht so perfekt wie bei der Früh-Stücke-Matinee eine Woche zuvor, als das Trio eine erste Kostprobe gab. Das Publikum ließ die Provokationen freundlich lächelnd über sich ergehen und wartete auf den deutsch-ungarischen Beitrag Opfer des Katona József Theaters Budapest.
Katharina Schenk (vom Jungen DT) erklärt uns, dass dem DT-Intendanten Ulrich Khuon ein brennender Dornbusch erschienen sei. Er solle zur Einweihung des neuen, wirklich sehr schicken Probebühnenzentrums den Göttern das opfern, was ihm am Wertvollsten und Liebsten sei. Man sei schon kurz davor gewesen, den Schauspielstar Uli Matthes, der mit seinen Lesungen und den großen Klassiker-Rollen z.B. als Macbeth eines der Aushängeschilder des Hauses ist, zur Schlachtbank zu führen. Dann sei man aber doch auf die Idee gekommen, lieber einen ungarischen Nachwuchsschauspieler unter einem Vorwand nach Berlin zu locken und als Opfer darzubringen.
Während seine Kollegin Schenk dem Publikum diese Vorgeschichte Stück für Stück entfaltet, beginnt Lehel Kovács damit, sich auszuziehen: auf deutschen Bühnen sei das ein Muss, habe er gehört. Er hat offensichtlich die Nachtkritik-Debatten über die Romeo und Julia-Inszenierung an den DT-Kammerspielen sehr genau verfolgt oder sich vom Schaubühnen-Publikumsmagneten Lars Eidinger inspirieren lassen.
Die Groteske, in die auch Projektleiterin Christa Müller noch einbezogen wird, mündet in ein passendes Finale. Die weiteren Mini-Dramen sind schnell abzuhaken: Die Sforaris Theatre Company Athen versuchte sich an einer Quizshow. Elayce Ismail vom National Theatre London machte sich in Food for the soul zu den Personal Jesus-Klängen von Depeche Mode über die Flut an Wellness- und Sinnsuche-Angeboten lustig. Die nachdenklichste Szene kam aus Stockholm vom Dramaten: ein Streitgespräch über Religion, Toleranz und Vertrauen, das sich einem klaren Ergebnis verweigerte.
Nach einer kurzen Pause setzte sich der ganze Publikums-Tross in den ersten Stock in Bewegung. Björn Bicker hatte mit einem Bürgerchor Urban Prayers einstudiert: auch wenn nicht alle Einsätze klappten und nicht alle Sprechpausen eingehalten wurden, war dieser vielstimmige Chor aus Menschen unterschiedlicher Generationen (von 11 bis 77) und Glaubensichtungen einer der Höhepunkte des Abends.
Das anschließende Speed-Dating war eher überflüssig: jeder Zuschauer wurde in Klein-Gruppen gelost, die sich in den engen Garderoben-Räumen zehn Minuten lang mit Vertretern unterschiedlicher Glaubensrichtungen unterhalten konnten. Der Informationswert war relativ überschaubar: dass es in Kreuzberg ein Zentrum der afrobrasilianischen matriarchalen Naturreligion Candomblé gibt, war mir neu. Recht viel mehr war in der knappen Zeit aber auch nicht zu erfahren. Beruhigend ist, dass es auch katholische Geistliche gibt, die manchen Lehrmeinungen des Vatikans kritisch gegenüberstehen.
Diesen dritten Teil „Ten Believers“ hätte man auch streichen und gleich zu den Gesprächen bei Tomatensuppe, Wasser, Brot und Wein im Dachgeschoss übergehen können. Diese Möglichkeit wurde erfreulicherweise vom Publikum besser angenommen als bei der letzten Mitos21-Projekt-Runde, die sich im Rahmen der Autorentheatertage 2013 mit einer Rede des britischen Premierministers David Cameron auseinandersetzte.
Gibt es noch Hoffnung für den Nahen Osten? – Yael Ronens „The Situation“ in einer Sprachschule in Neukölln
Yael Ronen feuert ihre Stückentwicklungen mittlerweile fast so schnell ab wie die Pointen in ihren Dialogen: am Pfingstwochenende hatte das Kohlhaas-Prinzip Premiere, zur Eröffnung der neuen Spielzeit legt sie schon The Situation nach.
Eine tragende Rolle spielt wieder Dimitrij Schaad: diesmal aber nicht als coole Rampensau, sondern als das krasse Gegenteil, als das personifizierte, verkrampfte, schlechte Gewissen.
Er spielt Stefan, einen Lehrer an einer Sprachschule in Neukölln. Bevor sich am Ende alle wieder auf der großen gelben Showtreppe versammeln, laviert er sich durch mühsame Einzelgespräche mit seinen Schülern, immer peinlich darauf bedacht, nicht anzuecken, keine religiösen Gefühle zu verletzen oder weltanschaulichen Streit vom Zaun zu brechen.
Zunächst trift er auf Noa (Orit Nahmias) und ihren Ex-Mann Amir (Yousef Sweid, der nicht nur in früheren Yael Ronen-Abenden mitwirkte, sondern auch schon in israelischen Kinofilmen und der Serie Homeland zu sehen war). Während er stottert und angesichts von Holocaust und Nahost-Konflikt um die richtigen Worte ringt, sind die beiden vor allem mit ihrem privaten Scherbenhaufen beschäftigt und sehnen sich in Berlin vor allem nach einer Auszeit von der Politik.
Mit dem syrischen Flüchtling Hamoudi (Ayham Majid Agha) diskutiert er über Geschäftsideen als Humus-Fahrrad-Verkäufer und ein Land, das seit Jahren in einem Bürgerkrieg zwischen Assad-Regime und IS versinkt. Eigentlich geht es ihm aber vor allem darum, ihn endlich ins Bett zu bekommen.
Solange das nicht klappt, wendet er sich Laila (Maryam Abu Khaled) und Karim (Karim Daoud) zu, die sich über die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete beklagen und Parkour-Künste vorführen.
Mit mehr Monologen, als wir es von Yael Ronen gewohnt sind, aber mit reichlich kleinen Pointen, die ihr eine treue Fangemeinde bescherten, gehen die knapp neunzig Minuten ihrem Ende entgegen. Zunächst darf auch der Lehrer Stefan seinen Migrationshintergrund darlegen, er heißt eigentlich Sergej und kommt aus Kasachstan.
Schließlich kommen alle an der großen Treppe zusammen, um Bilanz zu ziehen: Orit Nahmias, die schon in Common Ground für die heiteren Momente zuständig war, gibt die Optimistin. Wer hätte gedacht, dass die Berliner Mauer fällt? Sie zählt weitere Beispiele ganz unwahrscheinlicher historischer Entwicklungen auf und meint, dann muss es doch sicher auch eine Lösung für die Krisen im Nahen Osten geben, die nur als The Situation umschrieben werden.
Gibt es Hoffnung für den Nahen Osten? Der Abend endet am Gorki im Gemurmel der Schauspieler, die zwischen „bestimmt“ und „auf keinen Fall“ schwanken.
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