In die Enge getrieben

Starkes iranisches Theater: „Hearing“ zu Gast beim FIND-Festival der Schaubühne

Dieser Abend ist ein Tribunal. Zwei verschleierte Mädchen stehen unter Rechtfertigungsdruck: in der Silvesternacht will jemand Männerstimmen im Studentinnen-Wohnheim gehört haben.

Das wäre hierzulande nicht weiter der Rede wert, hätte aber vor wenigen Jahrzehnten sicher auch im spießigen Klima der Adenauer-Jahre für Empörung gesorgt. Im Iran löst der angebliche Männerbesuch im Frauen-Wohnheim auch heute noch einen handfesten Skandal.

Es gibt nur ein anonymes Schreiben und viel Hörensagen. Genug Stoff für Klatsch und Tratsch. Shamaneh (Zeugin) und Neda (Beschuldigte) werden vorgeladen – zunächst einzeln, dann als Gegenüberstellung.

Sie stehen verloren auf der fast völlig dunklen Bühne, während die Fragen der Heimvorsteherin in schneidendem Ton auf die beiden Mädchen niederprasseln. Sie feuert ihre Anschuldigungen und Nachfragen auf Farsi so schnell ab, dass Publikum kaum mit dem Lesen der Übertitel hinterherkommt.

Die Anklägerin sitzt mitten im Publikum und macht deutlich, dass es ihr vor allem um ihr persönliches Schicksal geht. Sie hat sich jahrelang hochgedient und erst vor kurzem das Vertrauen erarbeitet, dass sie während der Feiertage die Schlüsselgewalt für das Wohnheim bekam. Dementsprechend bangt die Anklägerin dieses „Hearings“ darum, ihre Machtposition sofort wieder zu verlieren.

Auch während der 70 Minuten wird der Fall nicht aufgeklärt, die Vorwürfe stehen nach wie vor unbewiesen im Raum, treiben aber die Beschuldigte in den Suizid. Das erfahren wir im Schlussteil, der das hohe Niveau der Aufführung leider nicht ganz halten kann: Hektisch schwirren die Schauspielerinnen mit Head-Kamera durch das Keller-Labyrinth und über den Vorplatz der Schaubühne am Lehniner Platz – das ist ein Bruch mit den sehr präzise gespielten Dialoge der ersten Stunde und man wähnt sich nun eher an Castorfs Volksbühne.

Trotz dieser Schwäche ist „Hearing“ ein sehenswertes Gastspiel der Mehr Theatre Group aus dem Iran. Regisseur Amir Reza Koohesani und seine vier Schauspielerinnen beschreiben sehr eindringlich,  wie die beiden Mädchen von der systemtreuen Sittenwächterin in die Enge getrieben werden.

Diese Studie über die Mechanismen eines autoritären Regimes unterstreicht, wie lebendig und kritisch die Kunstszene im Iran ist. Es ist immer wieder überraschend, mit welch starken Auftritten sich das iranische Kino trotz Zensur und Strafverfolgung bei der Berlinale, in Cannes oder beim „Around the World in 14 films“-Festival präsentiert. Mit diesen Künstlern ist der Regisseur Amir Reza Koohestani eng vernetzt: Er war beispielsweise Co-Autor von „Modest Reception“, das 2012 im Forum der Berlinale lief.

„Hearing“, das am 13. und 14. April 2014 als ein Höhepunkt beim FIND-Festival gastierte, fügt sich nahtlos in die Reihe sehenswerter Einblicke in die heutige iranische Gesellschaft ein.

Bild: Amir Hossein

 

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