Der NDR holte für sein traditionelles Soundcheck Festival einen internationalen Big Shot in das beschauliche Göttingen: The XX erweitern das sonst eher auf „jung, deutsch, auf dem Weg nach oben“-ausgerichtete Line-Up auf erfrischende Art und Weise.
Das Konzert besiegelt das Ende der Festival-Saison und ist für Fans und Band eine wohltuende Abwechslung zu den großen Bühnen dieser Welt, auf denen das Konzept von The XX nur schwer aufgehen kann. Erst am Wochenende zuvor spielten sie auf dem überdimensionierten Lollapalooza Festival in Berlin. Wie sie selbst auf der Bühne verlautbaren lassen, schätzen sie die „intime“ Atmosphäre an diesem frühen Freitagabend in der ausverkauften Stadthalle Göttingen.
In einer Welt, die am Abgrund steht, in der Frieden, Freiheit und Demokratie fragil geworden scheinen, singen The XX über das, was diesem Planeten derzeit so bitterlich fehlt: „love, love, love“ (Angels). Für 60 Minuten flüchten wir uns in unser Innerstes, in die Welt der Liebe, ihre Unzulänglichkeit, ihre Flüchtigkeit und unsere eigene Verletzlichkeit.
The XX sind ein stimmiges Gesamtkunstwerk: Der Hall der beiden Stimmen von Romy Madley Croft und Oliver Sim, die sich abwechseln und perfekt ergänzen, die simplen, melodischen Sounds der Gitarren- und Bassriffs und Jamie XXs geniale Beats, Samples und Keyboard-/Synthesizerstrecken dringen bis in die letzte Ecke der holzvertäfelten Göttinger Stadthalle vor.
Die Band liefert an diesem Freitag Abend ein grandioses Set, bestehend aus den Songs des neuen Albums „I See You“ umrahmt von einigen alt-bekannten Hits. Der Jamie XX Song „Loud Places“ ist – wie das Icing auf dem Kuchen – der dramaturgische Höhepunkt der Show. Zu „Higher! I’ll take you higher!“ bebt die Halle, nachdem sich zuvor Balladen wie „Say Something Loving“ und Tanzbares wie „Shelter“ oder der Eröffnungs-Song des aktuellen Albums „Dangerous“ abwechseln.
Gänsehaut-Feeling ergreift das Publikum, als Romy – die eine Jacke mit unübersehbarem „ROMANTIC“-Aufdruck trägt – ganz alleine den niederschmetternden Song „Performance“ darbietet. Sie singt mit hoch emotionaler Stimme: „If I scream at the top of my lungs, will you hear what I don’t say?“. Herzklopfen als Oliver nach dem Song auf die Bühne zurückkehrt und Romy küsst.
Auch wenn wir gerade gelernt haben, dass alles eine „Performance“ und eine „Show“ ist, sind wir dennoch mittendrin in der Authentizität der Emotionen, der The XX in ihrer Musik so einzigartig Ausdruck verleihen – und die sie gleichzeitig bejahen und verneinen.
Die vielen Wiederholungen einzelner Textpassagen, Riffs und Beats wirken meditativ, geradezu magisch auf die Besucherinnen und Besucher. Wie in Trance wird dazu getanzt, mitgesungen, gewippt und genickt. The XX zieht ihr Publikum in den Bann. Das kann auch die teilweise wie Bahnhofshallenbeleuchtung anmutende, missglückte Lichtgestaltung, das fehlende Spiegel-Bühnenbild, mit dem The XX derzeit eigentlich auf Tournee sind, die gut gemeinten, aber völlig deplatziert wirkenden Finger Lights des NDRs und der etwas zu hohe Geräuschpegel des Publikums nicht schmälern.
Beim Verlassen der Stadthalle hallt im Ohr noch die Textzeile des letzten Songs und The XX All-Time-Hits „Angels“ nach: „Dreaming of angels – and leaving without them“ während man auf jede Menge am Boden liegende Finger Lights tritt.
Nach dieser einen wohltuenden Stunde Weltflucht kehren wir zurück in die Realität – ohne Engel.
Bilder: Laura Coulson und Alasdair Mclellan