Les Misérables

Ganz vorsichtig tastet sich Frank Castorf an seine neue Wirkungsstätte heran: zur Eröffnung seiner ersten Inszenierung am Berliner Ensemble seit 1996 lässt er Jürgen Holtz einen langen Monolog sprechen.

Die Stars geben sich anschließend die Klinke in die Hand: Patrick Güldenberg darf nervös hyperventilieren, Andreas Döhler kommt im gewohnten Schnodderton auf die Bühne, Stefanie Reinsperger und Valery Tscheplanowa fauchen sich wie Raubkatzen an.

Leider schleppt sich das Ganze doch recht zäh dahin. Die 3,5 Stunden-Marke ist bereits überschritten, als Castorf ein Einsehen hat und seinem Publikum eine kleine Pause gönnt. Hauptgesprächsthema am Häppchen-Stand sind Tipps, wie man zwischendurch den Kreislauf in Schwung hält, und medizinische Dossiers, welche Körperteile besonders lädiert sind. Bei den einen waren es die Knie, bei den anderen die Bandscheiben. Deshalb wurden auch schon hohe Ablösesummen für die begehrten Randplätze im Parkett geboten, die mehr Beinfreiheit garantieren.

Nach der Pause überraschte Castorf mit einer Stummfilm-Sequenz, bevor sich seine Schauspieler in ausführlichen medizinischen Fachsimpeleien über Hustenanfälle und Tröpfcheninfektion ergingen. Dies gab ihnen auch Gelegenheit, ausführlich Werbung für Bad Sodener Hustenpastillen zu machen, die aber leider nicht zu dem Sitznachbarn durchgereicht wurden, der sein Umfeld vor allem vor der Pause mit heftigen Hustenattacken erfreute.

26_Les Miserables_Foto_Matthias Horn

Natürlich wurde zwischendurch auch Victor Hugo gespielt: Castorf bediente sich bei Motiven seines 1500-Seiten-Wälzers „Les Misérables/Die Elenden“, die er selbstverständlich mit Fremdtexten verschnitt. Naheliegend war, Hugos Plädoyer für die „Vereinigten Staaten von Europa“, das er bei einem Pariser Friedenskongress hielt, zu verwenden. Weniger bekannt ist, dass sich Hugo auch intensiv mit Kolonialismus und Befreiungskampf beschäftigte: dies führte Castorf zu Heiner Müllers „Der Auftrag“, zum Spanisch-Amerikanischen Bürgerkrieg und dem anschließenden Pachtvertrag über Guantánamo Bay und zu Guillermo Cabrera Infantes „Drei traurige Tiger“ (1959) über die kubanische Revolution.

Im besten Fall entstehen aus solchen Überschreibungen bei Castorf „oszilliernde Metamorphosen“, die „Doppel- und Mehrfachcodierungen“ einladen, wie Frank Raddatz im Programmheft schwärmte. Diesmal wurde daraus leider ein zäher Brei. Erst nach Mitternacht und deutlich über sieben Stunden wurde das Publikum entlassen.

Bilder: Matthias Horn

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