Glücklich wie Lazzaro

Mit großen, unschuldigen Augen und Wuschelhaaren geht „Lazzaro“ durch seine kleine Welt. Alice Rohrwachers Casting-Team gelang ein Coup: für die Hauptrolle fanden sie Adriano Tardiolo, einen Gymnasiasten aus Orvieto ohne jede Schauspielerfahrung. Er ist eine glänzende Besetzung für den naiven, menschenfreundlichen Jungen.

„Glücklich wie Lazzaro“ lohnt sich aber noch aus anderen Gründen. Der italienischen Regisseurin gelang ein raffiniertes Spiel mit verschiedenen Stilen. In der ersten Hälfte der knapp zwei Stunden wähnt man sich in einem neorealistischen Sozialdrama, das von der Not der Dorfbewohner von Inviolata erzählt. Die Marchesa de Luna (Nicoletta Braschi, bekannt aus „Das Leben ist schön“ ihres Ehemanns Roberto Benigni) beutet sie skrupellos wie Leibeigene aus und behält ihren Lohn ein, so dass sich die Menschen, die auf ihren Tabakplantagen schuften, immer tiefer in die Abhängigkeit und Verschuldung verstricken.

Der Einzige, der das Elend mit einem Lächeln und gelassener Fröhlichkeit erträgt, ist „Lazzaro“. Er steht ganz unten in der Hierarchie, wird von den Ausgebeuteten für Hilfs- und Handlangerdienste schamlos ausgenutzt. Rohrwacher erzählt diese Geschichte von Armut und Ungerechtigkeit sehr präzise: in bleichen, ausgewaschenen Farben schildert sie das Elend der Dorfbewohner. Die leicht gelbstichigen Bilder scheinen aus einer längst überwundenen Zeit zu stammen. Betont langsam, oft geradezu langatmig scheint „Glücklich wie Lazzaro“ als Historienpanorama die Zustände im 18. oder 19. Jahrhundert schildern zu wollen. Das Kinopublikum ist eingeladen, es sich im Sessel bequem zu machen und sich in das Elend einzufühlen.

Als die ersten Besucher wohlig wegdämmern, erweist sich das Historiendrama als falsche Fährte. Kleine Irritationsmomente gab es schon vorher, z.B. den Lancia der als „Giftschlange“ gefürchteten Plantagen-Besitzerin oder den Walkman ihres ebenso viel wie sie qualmenden, vom Raucherhusten geplagten, schnöseligen Sohnes. Der Film „Glücklich wie Lazzaro“ verschreibt sich nun dem magischen Realismus. „Lazzaro“ stürzte an einer Steilwand in die Tiefe – und feiert völlig unverletzt seine Wiederauferstehung. Motive aus der biblischen Legende des Lazarus werden in die Handlung eingeflochten, die nun immer sprunghaftere Wendungen nimmt. Wie das Vorbild aus der Mythologie kann auch der „Lazzaro“ im Film nach seiner Wiederauferstehung Tierarten, die längst als ausgestorben galten, entdecken.

Ebenso wie im Lukasevangelium ist auch in „Glücklich wie Lazzaro“ die Kluft zwischen Arm und Reich das zentrale Thema: Die Polizei, die in einem fingierten Entführungsfall gerufen wurde, deckt auf, dass die Marchesa die von Schulbildung und Außenwelt abgeschnittene Dorfbevölkerung über Jahrzehnte betrogen und in längst abgeschafften feudalistischen Strukturen festgehalten hat. Als „Lazzaro“ aus seinem Scheintod wieder aufwacht, findet er sich plötzlich allein wieder und trifft auf zwei Einbrecher, die gerade die Villa der Marchesa leerräumen. Hilfsbereit wie eh und je, geht er ihnen zur Hand und schleppt die Antiquitäten auf den Wagen, weil sie sich ihm gegenüber als Umzugsfirma ausgeben. Sie bringen ihn auf die Spur der ehemaligen Dorfbewohner, die in grauer Beton-Tristesse an den Rändern einer modernen Großstadt hausen: immer noch so arm und ausgebeutet wie zuvor. In einer eindrucksvollen Szene unterbieten sie sich gegenseitig zu Dumpinglöhnen auf einem „Arbeiterstrich“.

In den letzten Minuten schlägt Alice Rohrwachers Film ein paar Haken zu viel, aber auch hier gibt es noch einige Momente, die nachhallen, z.B. als „Lazzaro“ den mittlerweile verarmten Gutsherren helfen will und Forrest Gump-haft eine Bankfiliale betritt. Das Unschuldslamm, das keiner Fliege etwas zu Leide tun könnte, wird prompt für einen Bankräuber gehalten und, als sich dies als Irrtum herausstellt, zusammengeschlagen.

Der italienischen Regisseurin, die mit ihren Filmen seit ihrem Debüt 2011 regelmäßig auf den großen internationalen Festivals präsent ist, gelang mit „Lazzaro Felice/Glücklich wie Lazzaro“ ein eleganter Film, der raffiniert mit Erwartungen, Motiven und Genres spielt und von der sozialen Ungerechtigkeit erzählt, die sich als Konstante durch die Jahrhunderte zieht. Der Jury in Cannes zeichnete sie im Mai 2018 für das Beste Drehbuch, das Alice Rohrwacher selbst schrieb. Kino-Zeit.de lobte, dass ihr Film „den Spagat schafft, zugleich zeitlos und aus der Zeit gefallen, sozialkritisch und märchenhaft, naiv und weise zu sein.“

Bilder: © Piffl Medien

One thought on “Glücklich wie Lazzaro

  1. Alexandra Reply

    Ich habe den Film, insbesondere den ersten Teil, etwas anders gesehen. Die Regisseurin schildert im ersten Teil eine Welt, in der es trozt feudaler Ausbeutung und Demütigung viele Momente eines Glücks gibt, das aus Gemeinschaft entsteht und in der das Verhältnis zur Natur noch magische Züge hat. Lazarro hilft zwar jedem, wo er kann, steht aber nicht ganz unten in der Hierarchie und wird von den anderen (bis auf seinen zweifelhaften Freund Tancredi) nicht ausgenutzt.
    Nach seiner „Auferstehung“ entdeckt er keine ausgestorbenen Tierarten, sondern zeigt seinen Leuten, die sich in der Stadt nur noch von chips ernähren, welche Pflanzenarten essbar sind. Damit wird er zum Erinnerungsträger eines verlorenen kulturellen Wissens, das bei den anderen den Traum einer Rückkehr aufs Land beflügelt. Lazzaro scheint aber zu ahnen, dass diese Rückkehr unmöglich ist. Er weint und in gewisser Weise ist das bereits das Ende seiner Naivität und Unwissenheit.

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