Mit Triggerwarnungen ist der Weg zu diesem ATT-Gastspiel zwar gepflastert, zuletzt wiederholt auch Gül Pridat, blinde türkischstämmige Musikerin und Lotsin durch den zweistündigen Abend, im Foyer, was auf das Publikum zukommt. Und doch ist die völlige Dunkelheit im Saal für Großstadtmenschen, die auch nachts dem ständigen Lichtsmog einer Industrie- und Digitalgesellschaft ausgesetzt sind, eine ungewohnte Erfahrung. „Société Anonyme“, von Stefan Kaegi/Rimini Protokoll im vergangenen Herbst für den Malersaal im Schauspielhaus Hamburg konzipiert, wird zum Stresstest, den einige Zuschauer*innen abbrechen, indem sie mit einem Knicklicht den Abenddienst auf sich aufmerksam werden.
Ganz still wird es in der völligen Dunkelheit allerdings nie. Kommt mal keine Musik vom Band, meldet sich eine der neun anonymen Stimmen aus dem Off. Wie von Rimini Protokoll gewohnt, wurden diese Stimmen zu einem anregenden Mosaik von Expert*innen für Randzonen unserer Gesellschaft kompiliert: ein illegaler Migrant, der im Hamburger Hafen schuftet, und ständig fürchten muss, in eine Polizeikontrolle zu geraten, ein Darkroom-Besucher, ein Steuerberater, der Konzernen dabei hilft, Gewinnne kreativ vor dem Finanzamt in Offshore-Oasen zu verstecken plaudern aus ihrem Alltag. Beklemmender sind die Berichte einer schizophrenen Frau und eines Missbrauchsopfers, das als Kind von einem älteren Freund über Jahre gequält wurde. So unterschiedlich ist die Fallhöhe der Geschichten, die von Zwischenmoderationen von Gül Pridat und etwas bemüht wirkenden Mitmach-Lockerungs-Übungen wie Luftballon-Aufblasen und Keks-unter-dem-Stuhl-Suchen reichen.
Letztere wären gar nicht nötig gewesen, da sie von dem eindrucksvollen Dunkelheits-Erlebnis nur ablenken. Sie waren vermutlich auch der Grund, warum die Theatertreffen-Jury die „Société Anonyme“ nicht auf die Shortlist für den aktuellen Jahrgang setzte. Dorthin schaffte es nur die von Rimini Protokoll mit den Berliner Festspielen koproduzierte Mücken-Wanderung „Shared Perspectives“ durch einen Wald im Speckgürtel.
Einen Monat nach dem TT wurde diese ungewöhnliche Produktion nun für drei ausverkaufte Vorstellungen zu den ATT auf eine Probebühne im Hof des Deutschen Theaters Berlin eingeladen.
Bilder: Thomas Aurin