Zum 100. Geburtstag des Filmtheaters am Friedrichshain kuratierte Knut Elstermann eine Reihe mit Filmen aus dem und über den Kiez. Hier durfte natürlich „Berlin – Ecke Schönhauser“, eine der bekanntesten DEFA-Produktionen, nicht fehlen.
Die 80 Minuten spielen rund um die noch heute sehr trubelige Kreuzung am U-Bahn-Viadukt des Bahnhofs Eberswalder Straße (der damals Dimitroffstraße hieß) der Linie 2 und in der Prater-Gaststätte. Turbulent ist auch der Plot mit fast slapstickhaft anmutenden Verwicklungen der Jugend-Gang, die hier im Mittelpunkt steht.
Inspiriert von der damaligen Welle von Jugendfilmen, die James Dean und Marlon Brando in Hollywood anstießen, und vom Erfolg der westdeutschen „Halbstarken“ schrieb Wolfgang Kohlhaase, einer der begabtesten deutschen Drehbuchautoren, mit nur 25 Jahren ein Drehbuch, das mit jungen Darstellern in Berliner Slang Alltagssorgen schildert.
Überraschend ist, wie kritisch und negativ die Situation in der DDR des Jahres 1957 gezeichnet ist. Offen wird über Langeweile, Perspektivlosigkeit und fehlende Ausbildungsstellen gesprochen. Von optimistischer Aufbruchsstimmung einer sozialistischen Gesellschaft ist im Film von Regisseur Gerhard Klein und seinem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase nichts zu spüren.
Nach Stalins Tod gab es eine kurze Phase des Tauwetters. Das Filmteam lotete die Grenzen des Erlaubten aus. Die Kulturbürokratie hatte zwar starke Bedenken, der Film hatte aber prominente Fürsprecher wie die FDJ-Führung um Hans Modrow und den berühmt-berüchtigten Karl-Eduard von Schnitzler, denen der schnoddrig-frische Ton gefiel. So konnte der Film erscheinen. Im Gegensatz zu „Berlin an der Ecke“, einem Folge-Projekt von Klein/Kohlhaase, das 1965 verboten wurde und erst 1988 veröffentlicht wurde.
Der Film beschreibt eine Übergangszeit: vor dem Mauerbau konnte man noch relativ einfach zwischen den getrennten Sektoren Berlins reisen. Eine Figur prahlt damit, dass sie mehr als 100 Filme in den West-Berliner Kinos gesehen hat und Angela (gespielt von der West-Berliner Schülerin Ilse Pagé) nennt Marlon Brando als ihr Sex-Symbol, als ihr Verehrer sie nach dem attraktivsten Mann fragt. Deutlich sind auch Einflüsse des italienischen Neorealismus zu spüren.
Bei aller Kritik an der Enge des Sozialismus im Osten kommt der Westen natürlich noch schlechter weg. Das kapitalistische System erscheint als eine Welt voller Gier und Kriminalität. Hehler stiften die Jugendlichen um Dieter (Brecht-Schwiegersohn und Berliner Ensemble-Legende Ekkehard Schall) an, DDR-Ausweise zu klauen und an sie zu verschachern. Das führt die Jugendlichen ins Verderben.
Einzig positive Erwachsenenfigur ist ausgerechnet ein Volkspolizist, der am Ende mit väterlicher Milde alle Augen zudrückt und Angela wieder mit dem reumütig in die DDR heimgekehrten Dieter zusammenbringt. So viel Staats- und Linientreue musste offensichtlich auch in diesem Film sein, der so viele Tabus der damaligen Zeit ankratzt.
Bild: DEFA-Stiftung/Siegmar Holstein/Hannes Schneider