Eines langen Tages Reise in die Nacht – Instrumentalversion

Kratzen und Schaben sind die ersten Eindrücke dieses Abends. Beides durchaus charakteristisch für die Arbeiten der Regisseurin, die oft wie Klanginstallationen oder bildende Kunst wirken. Schon in ihrer Uni-Abschlussarbeit „Medea“ kratzten die Löffel über die Teller und durchbrachen die Stille einer sprachlosen Familie.

Diesmal kommt das Kratzen von Ekaterina Zeynetdinova, die im Zentrum der Bühne des Staatstheaters Nürnberg thront und ihrer Violine atonale Töne entlockt. Zu ihren Füßen taumelt Stephanie Leue. Gemeinsam verkörpern sie Mary Tyrone, die morphiumsüchtige Mutter der dysfunktionalen Familie aus dem Klassiker „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O´Neill.

Stilprinzip diesr „Instrumentalversion“ des realistischen Sozialdramas ist, dass Rieke Süßkow und ihr Team komplett auf jedes Wort verzichten. Der Plot wurde auf Motive und Stimmungen eingedampft, die über die Musik transportiert werden. Jeder Figur aus der Familie Tyrone wurde ein Instrument zugeordnet, das ihren Charakter und ihren Seelenzustand spiegeln soll, je ein Schauspieler aus dem Ensemble des Staatstheaters Nürnberg und ein Musiker der dortigen Hochschule für Musik  teilen sich die Rolle. Außer dem bereits erwähnten Duo, das Mutter Mary Tyrone spielt, sind folgende drei Tandems zu erleben: Stefan Schäfer und das Violoncello von Lucas Jansen verkörpern den Vater James Tyrone. Joshua Kliefert und die Klarinette von Nina Janßen-Deinzer spielen den dahinsiechenden Sohn Edmund Tyrone. Justus Pfankuch und die aufbrausende Posaune von Lukas Immanuel Krauß sind als dessen Bruder James Tyrone zu erleben.

Die Morphiumspritzen, die sich Mutter Mary setzt, und das Grab des verstorbenen dritten Bruders gehören zu den wenigen konkreten Anhaltspunkten für das Publikum. Ansonsten ist der 75 Minuten kurze Abend eine sehr freie, assoziative Auseinandersetzung. Genau das war auch von Sebastian Hartmann zu erwarten, der sich nur knapp zwei Monate nach Süßkow am Staatsschauspiel Dresden ebenfalls das O´Neill-Stück vornahm, aber in der ersten Hälfte seiner Inszenierung mit ungewohnt realistischen Szenen und klar erkennbaren Figuren arbeitete.

Doch Süßkow treibt dem O´Neill konsequent jeden Realismus aus und beschränkt sich auf Spurenelemente der Vorlage, die nur für Kenner des Originals lesbar sind. Nach zwei Theatertreffen-Einladungen in Folge mit „Zwiegespräch“ (Akademietheater Wien, 2023) und „Übergewicht, unwichtig: Unform“ (Staatstheater Nürnberg, 2024) stand auch ihre O´Neill-Instrumentalversion auf der Shortlist des Theatertreffens 2025, schaffte es jedoch nicht in die 10er Auswahl.

Ihrer Handschrift blieb Süßkow treu, die neue Arbeit wirkt noch radikaler. Unter Verzicht auf jegliche Sprache stehen Assoziation und Emotion im Mittelpunkt. Glücklicherweise ist die neue Arbeit nicht mehr so comichaft überzeichnet wie ihre Schwab-Inszenierung im vergangenen Jahr. Laut Programmheft zeigte sich eine solche Tendenz im langen Probenprozess auch für O´Neill ab, wurde jedoch vermieden.

Im aktuellen Theaterjahrgang ist Süßkows „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ eine der Inszenierungen, die sich am konsequentesten gegen den Mainstream stellen, was für ein mittelgroßes Haus wie das Staatstheater Nürnberg einiges an Risikofreude erfordert. Der kurze Abend landet dabei aber in einer Nische in den Grenzbereichen des Sprechtheaters, wohin ihm auch die Jury-Mehrheit nicht mehr folgen wollte.

Bilder: Konrad Fersterer

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