Charakteristisch für die gerade zu Ende gehende Spielzeit ist, dass zwei Klassiker aus der unmittelbaren Nachkriegszeit eine ungewöhnliche Renaissance erlebten. Gleich drei Mal inszenierten bekannte Namen an großen Bühnen mit ganz unterschiedlichen Handschriften Samuel Becketts „Warten auf Godot“ (Ulrich Rasche in Bochum, Claudia Bauer in München, Luc Perceval in Berlin). Ebenfalls gleich drei Versionen gab es von „Eines langen Tages Reise in die Nacht“: von Rieke Süßkow in Nürnberg, von Sebastian Hartmann in Dresden und von Sebastian Nübling in Berlin.
Hartmann ist in Sachsen gefürchtet für sperrige, schwer zugängliche Abende, mit denen er als Intendant das Leipziger Centraltheater leer spielte und am Staatsschauspiel Dresden polarisiert. Ungewöhnlich sind die ersten anderthalb Stunden seiner Auseinandersetzung mit Eugene O´Neill. Naturalismus ist natürlich weiterhin nicht die Sache von Hartmann und seiner Crew, der Untergang der Familie Tyrone in Rausch und Lebenslügen wird in Dresden selbstverständlich nicht so werktreu nachempfunden wie z.B. bei Andrea Breth am Burgtheater.
Aber überraschend ist, wie klar die Konturen der Figuren an diesem Hartmann-Abend sind. Statt assioziativer Bilder- und Nebelwelten, die von Versatzstücken aus dicken Wälzern wie Thomas Manns „Zauberberg“ oder Fjodor Dostojewskis „Der Idiot“ inspiriert sind, wird der Absturz dieser Familie auf erstaunlich zugängliche Art nacherzählt.
Einen besonderen Kniff erlaubte sich Hartmann aber doch: wie auch schon in früheren Inszenierungen sampelt das Ensemble die einstudierten Szenen jedes Mal neu. Die Reihenfolge ist an jedem Abend anders, folgt nie der Vorlage von O´Neill, der Kern der Probleme und Reibungen zwischen den vier Familienmitgliedern wird auch so sehr deutlich.
Aus dem Ensemble ragt Cordelia Wege, Hartmanns Ehefrau, heraus: wie Chefdramaturg Jörg Bochow zu Beginn ankündigte, plagen sie momentan Rückenschmerzen, so dass ihre Bewegungen langsamer und eingeschränkt sind. Damit wird sie in der Rolle der morphiumsüchtigen Mutter noch stärker zum ruhenden Gegenpol zu den oft rennenden und schreienden Söhnen (Marin Blülle und Simon Werdelis) und dem Vater (Torsten Ranft). Komplett wird der Abend von Samuel Wieses Live-Musik und dem geisterhaft dazwischen schwebenden Tänzer Ronni Maciel, der den als Kleinkind verstorbenen Sohn verkörpert.
Bis zur Pause erleben wir einen hochklassigen Abend der Schauspielkunst, in dem Hartmann neue Wege ausprobiert. Die letzte Stunde ist dann nur noch ein fahriger Nachklapp: ein langes Solo von Ranft wird durch viel Nebelschwaden-Theater und assoziativen Leerlauf gerahmt. Hier kopiert sich Hartmann zu sehr selbst bis zur Selbstkarikatur.
Der Jubel im nicht ausverkauften Staatsschauspiel Dresden war zum Saison-Finale dennoch groß. Nach der Premiere am 29. November 2024 hatte auch die Theatertreffen-Jury diesen Abend in ihrer Diskussion, er schaffte es aber nicht in die 10er Auswahl. Konzeptionell ragt diese „Eines langen Tages Reise in die Nacht“-Inszenierung aus dem Theater-Jahrgang heraus. Bemerkenswert ist auch, wie Hartmann im ersten Teil neue Wege auslotet und seinem vertrauten Stil dennoch treu bleibt. Diese Balance macht den Abend interessant und brachte Hartmann auch eine Nominierung für den Faust ein, der im November 2025 vergeben wird.
In der zweiten Hälfte fällt „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ zu sehr ab und landet im gewohnten, zu selbstreferentiellen Hartmann-Kosmos, so dass die Theatertreffen-Jury gute Argumente hatte, ihn nach vier Einladungen (2013/2019/2021/2023) diesmal nicht in der 10er Auswahl zu berücksichtigen und stattdessen neue Regisseure vorzustellen.
Bilder: Sebastian Hoppe