Androgynous. Portrait of a naked dancer

Wenn die Theater mit langem Vorlauf ihre Spielpläne gestalten und neue Inszenierungen beauftragen, kommt es manchmal zu überraschenden Konstellationen. Sowohl am Gorki Theater als auch an der Volksbühne tauchen argentinische Theatermacherinnen in die sexpositiven, wilden 1920er Jahre ein. Vom „Tanz auf dem Vulkan“ in der ihrem Untergang entgegentaumelnden Weimarer Republik erzählen Lola Arias in ihrem Reenactment „Androgynous. Portrait of a naked dancer“ und Constanza Macras in ihrer Revue „Goodbye Berlin“, die kurz nacheinander im Oktober Premiere feierten.

Die Gemeinsamkeiten der beiden Zwillings-Inszenierungen, die so unterschiedlichen Künstlerinnen ganz unabhängig voneinander erarbeiteten, sind frappierend. Dies beginnt schon mit dem tiefen Pessimismus, der beide Arbeiten durchzieht. Macras warnt davor, dass die offene Gesellschaft und ihre Lebenslust ein zweites Mal den Rechtsextremen zum Opfer fallen könnten. Die Kippmomente zwischen 1920er Nostalgie und KitKatClub-Gegenwart sind das Zentrum ihrer schillernden Revue. Genau so alarmiert ist River Roux, nonbinäre Performer*in, die den Gorki-Abend gemeinsam mit Arias konzipiert hat und trägt. Ganz ruhig wird es im Saal, als Roux davon spricht, dass Anita Berber, um deren Leben „Androgynous“ kreist, 1929 starb, kurz bevor die Nazis an die Macht kamen und viele ihrer Freunde/Weggefährten fliehen mussten oder ermordet wurden. Immerhin musste die Berber das nicht mehr erleben, seufzt Roux, und fragt sich, ob sie wohl bald um ihre Freundinnen und Freunde trauern wird.

Gemeinsam haben beide Abende auch die schillernden Kostüme, die fürs Gorki Tutia Schaad entwarf, und vor allem die artistisch-lasziven Poledance-Einlagen an beiden Abenden. Bei den Berliner Stadtmeisterschaften an der Pole könnte es zum Duell zwischen Campbell Caspary und River Roux kommen, die als Teil des „Berliner Strippers Collectives“ noch von René Pollesch an die Volksbühne geholt wurde und dort seit Januar 2025 auch ihr „Juice“-Solo im Roten Salon zeigt.

Und doch ist die Herangehensweise der beiden Inszenierungen, die Querverbindungen zwischen den 1920ern und 2020ern nachspüren, sehr verschieden: hier der assoziativ-überbordende Stil von Macras, der diesmal etwas weniger rasant von Motiv zu Motiv hetzt als ihre letzten Arbeiten, dort die dokumentarische Auseinandersetzung mit Biographien als lässiges Infotainment-Reenactment. Roux und ihre beiden Mitstreiter*innen, die ebenfalls nonbinäre Performer*in Dieter Rita Scholl, mit 73 Jahren Veteran*in der West-Berliner Schwulenbewegung, und der Gay-Performer Bishop Black kontrastieren die Annäherung an Anita Berber mit ihren persönlichen Lebenswegen, sprechen ganz offen über Sexarbeit, die Reaktionen des Umfelds auf ihre sexpositiven Auftritte und setzen sich immer wieder in Beziehung zu Berber, die neben Josephine Baker (in Kurzauftritt von Bishop Black verkörpert) die berühmteste Erotik-Tänzerin der 1920er Jahre war. 

Die Nazis haben die wenigen Aufnahmen über Anita Berber vernichtet, so dass die Annäherung mit Leerstellen zu kämpfen hat und auf Polizeiberichte der damaligen Zeit zurückgreift. In der witzigsten Androgynous-Szene liest Scholl das Protokoll der damaligen Sicherheitsbehörden, die haarklein jede Bühnen-Regung von Berber und ihrem Partner vermerkten. In einer Mischung aus voyeuristischer Lust und preußischem Pflichtbewusstsein entsteht so das Skript für eine Tanzeinlage, die Roux und Black auf der Gorki Bühne nachspielen.

Mit Standing Ovations wurde die zweite „Androgynous“-Vorstellung nach der Premiere vom 18. Oktober 2025 gefeiert: eine Doku-Performance, die Hommage an eine Künstlerin und sexpositives Empowerment sein will.

Bilder: © Ute Langkafel MAIFOTO

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