Der französische Regie-Jungstar Jean Bellorini schuf eines der Highlights dieses Festival-Sommers. Vor der beeindruckenden Kulisse des Steinbruchs bei Avignon lässt er die Familie Karamazov leiden, lieben, streiten, philosophieren und morden.
Bellorini schlägt mit seinem Ensemble den ganz großen Bogen und wagt sich daran, in etwas weniger als fünf Stunden mit klugen, behutsam gesetzten Strichen die wesentlichen Szenen und Streitgespräche von Dostojewskis 1200 Seiten-Wälzer „Die Brüder Karamasow“ auf die Bühne zu bringen.
In Berlin gab es in den vergangenen Jahren zwei Versuche, sich dem Werk zu nähern. Thorsten Lensing konzentrierte sich mit Starbesetzung (Ursina Lardi, Ernst Stötzner, Devid Striesow) auf die Nebenfiguren, verhedderte sich dabei auch auf Nebenschauplätzen, so dass die knapp vier Stunden deutlich mehr Längen als die französische Inszenierung hatten.
Frank Castorf wirbelte die Handlungsbruchstücke wild durcheinander, bediente sich nach Belieben einiger Motive und setzte Schauspieler und Publikum einem mehr als sechsstündigen Dostojewski-Exerzitium aus. Das Lohnende an Castorfs Inszenierung ist, dass sein Ensemble die Überspanntheit und Zerrissenheit der Figuren, die Dostojewski als „Nadryw“ bezeichnete, auf die Bretter der Volksbühne knallt. Wer könnte eindrucksvoller leiden, hingebungsvoller zetern und leidenschaftlicher krächzen als Kathrin Angerer und Sophie Rois, die Diven vom Rosa-Luxemburg-Platz und ihre männlichen Kollegen?!
Die Stärke von Bellorinis Abend ist, dass er die Vorlage wirklich ernst nimmt und das von Dostojewski erdachte Panorama auf der Bühne Station für Station miterleben lässt.
Dieser „Karamazov“ in Avignon setzt Maßstäbe, wie Romanadaptionen im Theater gelingen können.
Bilder: © Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon. Porträt des Regisseurs Jean Bellorini: © Benedicte Deramaux
Dostoyeahwski
Dieser Satz hat neugierig gemacht: \“Die Stärke von Bellorinis Abend ist, dass er die Vorlage wirklich ernst nimmt und das von Dostojewski erdachte Panorama auf der Bühne Station für Station miterleben lässt.\“
Denn das geschieht sehr selten. Das unsäglich vielschichtige und zugleich überfrachtete Werk Dostojewskis Brüder Karamasow hat das schon längst verdient. Oft (immer?) scheint man den schweren Intellektuellen heraushängen zu lassen. Und damit aus auch funktioniert, fragmentiert man das Werk und setzt den Fokus aene, die nur dem Dostojewski-Kenner verständlich sind. Castorf ist darin ein ganz Großer. Und mit Sophie Rois hat er da auch allerbestes Material. Ihre Formulierung \“auf die Bretter geknallt\“ trifft es sehr gut. Castorf schmeißt dem Publikum sein Stück vor die Füße. Ob sie es goutieren können ist ihm gleich. Schade. Viel Wind ist eben auch nur viel Luft.
Da scheint sich Bellorini Stück ja nun mal abzusetzen. Sehr begrüßenswert.