FIND Eröffnung 2024

Ein sehr klares Profil hatte das Eröffnungswochenende des FIND-Festivals, das alljährlich im Frühjahr internationale Gastspiele an der Schaubühne präsentiert: mit Laien erarbeitetes Dokumentartheater über prekäre Arbeitsbedingungen und Ausgrenzungserfahrungen an den Rändern der Gesellschaft prägte den Auftakt.

Aus Bologna kam Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto, das das Duo Kepler-452 (Enrico Baraldi & Nicola Borghesi) für das Emilia Romagna Teatro entwickelt hat. Die beiden wollten mit Fabrik-Arbeitern einen zeitgenössischen Blick auf den dicken marxistischen Wälzer werfen und fuhren neugierig nach Florenz. Dort trat die Belegschaft des Autozulieferers GKN im Juli 2021 in Streik: die Wirtschaft tastete sich langsam aus den Lockdowns, als das Werk in Campi Bisenzio geschlossen werden sollte und die Mitarbeiter ihre Kündigung erhielten. Diese traten in Streik, bildeten ein Kollektiv und führen das Werk seit nun etwas mehr als 1000 Tagen in Eigenregie weiter, eine ökologischere Ausrichtung exklusive.

Ästhetisch ist dieser knapp anderthalbstündige Abend minimalistisches, ganz klassisches Dokumentartheater: Monolog reiht sich an Monolog und klärt über den Alltag in der Fabrik auf. Tiziana De Biasio, Francesco Iorio, Dario Salvetti, Mario Berardo Iacobelli vom Arbeiter_innen-kollektiv der GKN erzählen von ihren Erfahrungen, das Kepler-Duo vertritt Nicola Borghesi.

Besonders bandwurmartige Satzkonstrukte von Marx werden kurz eingeblendet, ein Arbeiter sagt achselzuckend, dass er mit diesen Theorien nichts anfangen könne. Dementsprechend bewegt sich der Abend ganz handfest in der Praxis. Fazit eines Kollektivisten war, dass er die selbstbestimmtere, nicht entfremdete Arbeit genieße, aber die ständigen Voll-Versammlungen auch sehr anstrengend seien. Wirklich neue Erkenntnisse brachte dieser Bericht italienischer Aktivisten also nicht, das Berliner Publikum unterstützte ihre Tatkraft im Globe dennoch mit langem Applaus.

Nebenan im Studio gastierte Marco Martins mit Pêndulo, das er mit sieben Frauen aus der Peripherie von Lissabon erarbeitete. Altersmäßig ist die Gruppe bunt gemischt. Sie eint: auch sie sind keine ausgebildeten Schauspielerinnen, sondern erzählen von ihrem Alltag als Putzfrauen, Pflegerinnen oder Hausangestellte. Außerdem haben sie gemeinsam, dass sie aus ehemaligen Kolonien Portugals stammen.

Im realistischen Setting eines Pausenraums für die Reinigungskräfte eines Supermarkts unterhalten sich die Frauen, bis abwechselnd eine ins Zentrum tritt und ihre leidvollen Erfahrungen schildert. Auch dies als Frontaltheater, knapp zwei Stunden entfaltet sich eine Kette von Monologen über Rassismus, Ausbeutung, Krankheit und Sterben, die vor allem in der zweiten Hälfte etwas zu dick aufgetragen auf die Tränendrüsen zielt.

Gebrochen wird das Doku-Theater durch zwei Kniffe: Vânia Rovisco hat mit den Frauen mehrere Tanzeinlagen einstudiert, die oft spirituellen Hintergrund haben und den christlichen Gott oder animistische Gottheiten anrufen. Ebenso unvermittelt treten mehrfach Zombie- oder Albtraumsequenzen in die Klage-Litanei prekärer Existenzen. Dramaturgisch wurde dies jedoch nicht schlüssig gelöst.

Bild: Estelle Valente

Ganz dem Sozialrealismus hat sich auch der Brite Alexander Zeldin verschrieben, er ist bereits FIND-Stammgast und „Artist in Focus“ der aktuellen Ausgabe. Deshalb lief zur Eröffnung sein Stück „The Confessions“, das schon auf diversen Festivals lief. Im Lauf der Woche folgen das mit dem Schaubühnen-Ensemble entwickelte Stück „Beyond Caring“, die Film-Version von „Love“ und „Faith, Hope and Charity“, die eine ultrarealistische Trilogie bilden.

Am stärksten von dieser kuratorischen Linie wich die groteske Fabel „Catarina e a beleza de matar fascistas“ von Tiago Rodrigues, Festival-Direktor in Avignon, der vom Antifaschismus in Portugal erzählt. Dieses Stück tourt allerdings schon fast vier Jahre über die Festivals von den Wiener Festwochen bis Theater der Welt und wurde anlässlich des 50. Jahrestags der Nelkenrevolution eingeladen.

Bild: Luca Del Pia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert