Sebastian Hartmanns „Woyzeck“ am Deutschen Theater: Radikale Reduktion auf zwei Schauspieler, geteiltes Echo auf exhibitionistische Performance von Benjamin Lillie

Georg Büchners Woyzeck gehört zu den Dauerbrennern auf den Theater-Spielplänen. Das Dramen-Fragment, das der Mediziner, Philosoph und Sozialrevolutionär kurz vor seinem Tod mit nur 23 Jahren in drei schwer lesbaren Handschriften hinterlassen hat, fordert die Regisseure bis heute heraus. In diesem Herbst brachten gleich zwei große Häuser, die nur einen sehr kurzen Abendspaziergang von einander entfernt liegen, eine neue Inszenierung dieses Stoffs auf die Bühne. Hier soll es zunächst um Sebastian Hartmanns Aufführung am Deutschen Theater gehen.

Erfahrene Theaterbesucher wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie den Namen des Castorf-Schülers und ehemaligen Intendanten des Leipziger Centraltheaters hören. Er zertrümmert die Texte und setzt sie neu zusammen, so dass das Original kaum mehr wiederzuerkennen ist. Die musikalische Begleitung spielt bei Hartmann immer eine große Rolle – hier passen die düsteren Klänge von Christoph Mäcki Hartmann sehr gut zum schwarzen, abschüssigen Tunnel, in dem sich die beiden Schauspieler wälzen.

Hartmann macht seinem Ruf auch an diesem Abend wieder alle Ehre. Die 27 Rollen teilen sich nur zwei Schauspieler (Katrin Wichmann und Benjamin Lillie), die wild zwischen den Textbrocken von Franz Woyzeck, seiner Marie, dem Tambourmajor, dem Doktor und der anderen Figuren hin und her springen. Die beiden exzellenten Protagonisten des Abends gehen an ihre Grenzen, fallen über einander her, rollen ineinander verkeilt über den Boden, schreien, fauchen, imitieren Vogelgeräusche, brabbeln in Phantasiesprachen. Original-Passagen, an die man sich dunkel aus dem Reclam-Bändchen oder klassischeren Inszenierungen erinnert, werden mit anderen Büchner-Texten (Der Hessische Landbote, Lenz) und schwer zugänglichen Heiner Müller-Häppchen wie Bildbeschreibung, die Benjamin Lillie in einem langen Schluss-Monolog vorträgt, gemixt.

Hartmanns Woyzeck ist das derzeit wohl radikalste Stück am sonst so traditionsbewussten Deutschen Theater Berlin und steuert auf halber Strecke nach einer guten Stunde zielgerichtet auf die Szene zu, die in (fast) allen Rezensionen breiten Raum einnahm: Lillie setzt in einer Ecke der Bühne zum Striptease an und wird vom Arzt (alias Kollegin Wichmann) zur Urinprobe aufgefordert, da die Auswirkungen der Erbsensuppen-Diät getestet werden sollen. In einer knapp fünfminütigen Performance müht er sich in aberwitzigen Stellungen und mit grotesken Verrenkungen, ruft dazwischen immer wieder „Pippi – los“ und „Doktor, ich kann nit“, bevor Benjamin Lillie nach weiteren Nackt-Monologen und einer knappen halben Stunde seine Hose wieder anzieht.

Die Reaktionen fielen an diesem Abend erwartungsgemäß aus: Kichernde Mädchen, die von den ausführlichen Szenenbeschreibungen neugierig gemacht worden waren, amüsieren sich köstlich. Ein älteres Ehepaar, das kurz vor Spielbeginn selbst eine akrobatische Einlage aufs Parkett gelegt hatte, da sie sich wegen vergessener Brille in die falsche Reihe verirrt hatten und die Frau dann kurzerhand quer über den Sitz geturnt war, grummelte die gesamte zweite Hälfte vor sich hin: „Wie kann man den Büchner so verhunzen!“

Woyzeck. Ca. 1 h 40 Minuten. Premiere war am 3. Oktober 2014

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