Erste Filme im Wettbewerb: Berliner Kleinkriminielle in „Victoria“, Widerstand gegen Zensur im Iran in „Taxi“, Massenabwanderung in Terrence Malicks „Knight of Cup“

Zu den ersten Höhepunkten des Festivals zählt die WDR/arte-Co-Produktion Victoria, mit der sich Regisseur und Drehbuchautor Sebastian Schipper zurückmeldet. Nach ersten Erfolgen (Absolute Giganten, 1999 und Ein Freund von mir, 2004) war es stiller um ihn geworden.

Victoria ist trotz Überlänge von 140 Minuten ein packender Thriller über eine Gang Kleinkrimineller, die zunächst in einem Club eine junge, erst vor drei Monaten nach Berlin gezogene Spanierin (Laia Costa in der Titelrolle der Victoria) kennenlernen und mit ihr gemeinsam ziellos durch die Nacht ziehen. Der Film wirkt anfangs wie eine Sozialstudie über Mittzwanziger in der Hauptstadt, nimmt aber rasant an Fahrt auf, als sich ein ehemaliger Knast-Genosse meldet und die Clique auffordert, für ihn eine Bank zu überfallen: ein Coup, der für die Kleinkriminellen ein paar Nummern zu groß scheint.

Zum sehr stimmigen Soundtrack von Nils Frahm schickt Regisseur Sebastian Schipper seine Jungs (überzeugend gespielt von Frederick Lau, Franz Rogowski und Burak Yigit) mit ihrer spanischen Begleiterin auf eine wilde Tour durch Berliner Milieus von den Hinterhöfen Kreuzbergs und Neuköllns bis zum Westin Grand Hotel.

Eine Besonderheit dieses deutschen Beitrags im Rennen um den Goldenen Bären ist, dass er ohne Schnitt gedreht wurde. Selbst die hanseatisch-vornehme ZEIT war von dieser rasanten Tour de Force begeistert: „Man sitzt und schaut und ist völlig überwältigt von dem, was man da sieht.“ Der RBB ruft den Film bereits zum Top-Favoriten aus, obwohl das Festival gerade erst begonnen hat: „Es fällt schwer, eine Auszeichnung aus dem Portfolio der Berlinale zu benennen, die „Victoria“ nicht verdient hätte. Laia Costa als Darstellerin, Frederick Lau als Darsteller, Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, Co-Drehbuchautor und Regisseur Sebastian Schipper: Sie alle haben hier Herausragendes geleistet – und nicht nur der diesjährigen Berlinale den bisher kraftvollsten Film beschert, sondern dem Festival insgesamt den besten, gewagtesten, gewaltigsten deutschen Wettbewerbsbeitrag seit vielen Jahren.“

Wesentlich ruhiger, aber nicht weniger interessant geht es in Jafar Panahis neuem Film Taxi zu. Von Meisterwerken wie Offside (Silberner Bär, 2006) fühlte sich das iranische Regime so sehr provoziert, dass der Regisseur Panahi 2010 zu zwanzig Jahren Berufs- und Reiseverbot verurteilt wurde. Dennoch findet Panahi immer wieder Mittel und Wege, alle Schikanen zu unterlaufen und Filme auf die großen internationalen Festivals zu schmuggeln.

Panahis neuer Film Taxi ist ein mit hinter dem Armaturenbrett eines Teheraner Sammeltaxis versteckter Kamera gefilmtes philosophisches Roadmovie über Zensur und künstlerische Freiheit. Langsam schleicht sich der Film an sein zentrales Thema heran. In der ersten Stunde unterhält er mit skurrilen Momentaufnahmen und giftigen Dialogen zwischen den Taxi-Mifahrern: ein Straßenräuber diskutiert mit einer verschleierten Lehrerin über die Todesstrafe, zwei abergläubische Frauen müssen ihre Goldfische unbedingt zu einer bestimmten Uhrzeit in einem Teich aussetzen.

Als man denkt, dass der Film langsam redundant wird, spricht er das bis dahin nur zwischen den Zeilen erkennbare Thema Meinungsfreiheit offen an. Dies übernehmen eine Menschenrechtsanwältin, die gerade auf dem Weg zu einer inhaftierten Mandantin ist, und die Nichte des Regisseurs, die mindestens ebenso pfiffig ist wie ihr prominenter Onkel Jafar Panahi. In diesen Dialogen geht es um die für Künstler und NGOs im Iran überlebenswichtige Frage, wo die Grenzen des Sag- und Zeigbaren liegen. Die Nichte legt mit kindlich-schlauen Fragen zu ihrem Schulprojekt, einen Film mit Handkamera zu drehen, den Finger in die offenen Wunden, die Anwältin beleuchtet das Thema analytischer aus ihrer Praxis, bis der Film in einer überraschenden Pointe endet.

Taxi zählt zu den gelungenen Filmen an diesem Berlinale-Eröffnungswochenende, der Tagesspiegel fand ihn sogar „brillant“.

Was kann schiefgehen, wenn Regie-Altmeister Terrence Malick, der für Thin red line 1998 den Goldenen Bären verdient hat, mit Stars wie Christian Bale, Cate Blanchett und Natalie Portman arbeitet?

Leider fast alles, wie die sich stark lichtenden Reihen bei der Pressevorführung von Knight of Cups am Sonntag Mittag im Berlinale-Palast dokumentierten. So viel Publikumsschwund war selten zu erleben…

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