Im Advent im Kino: „Carol“, „Dheepan – Dämonen und Wunder“, „Das brandneue Testament“, „Duke of Burgundy“

Welche Kinofilme lohnen sich im Advent 2015?

Kurz vor Weihnachten starteten zwei große Gewinner des Filmfestivals von Cannes (Mai 2015): Cate Blanchett und Rooney Mara wurden für ihre Rollen in „Carol“ (Regie: Todd Haynes, Start: 17.12.) als beste weibliche Hauptdarstellerinnen ausgezeichnet. Der wichtigste Preis, die Goldene Palme, ging in diesem Jahr an „Dheepan – Dämonen und Wunder“ (Regie: Jaques Audiard, Start: 10.12.)

„Dheepan – Dämonen und Wunder“: so viel Blut, so große Themen, so wenig Substanz

„Dheepan“ hätte der Film des Jahres werden können. Mangelnden Mut kann man dem französischen Regisseur Jaques Audiard nicht vorwerfen. Er greift die zentralen politischen Themen des Jahres auf: die große Zahl der Flüchtlinge und ihre Schwierigkeiten, sich in der fremden Umgebung ohne Sprachkenntnisse zurechtzufinden; die Tristesse der französischen Banlieues, die Hoffnungslosigkeit, die in Radikalisierung und der Gewaltexplosion mündet.

Leider findet er keine überzeugenden Mittel, von diesen drängenden Problemen zu erzählen. Ratlos springt er zwischen klassischem Sozialrealismus, einem Liebesmelodram und Thriller-Motiven hin und her. Die Exposition seiner Figuren war vielversprechend: in einem Flüchtlingslager auf Sri Lanka begegnen sich zwei wildfremde Menschen, die nur der gemeinsame Wunsch eint, das vom Bürgerkrieg geplagte Land möglichst schnell zu verlassen und nach Europa zu fliehen. Sie geben ein Waisenkind als ihre Tochter aus und machen sich mit gefälschten Pässen auf den Weg nach Europa, wo sie in einem heruntergekommenen Wohnblock in einer der Pariser Vorstädte landen, die so traurige Berühmtheit erlangten.

Audiards Film krankt daran, dass er sich nicht entscheiden kann, welche Geschichte er erzählen will: Mal folgt er den Flüchtlingen bei ihren Behördengängen oder schildert, wie die Titelfigur Dheepan als Hausmeister nur schwer Fuß fassen kann, weil er immer nur brav nickt, aber in Wahrheit nur Bahnhof versteht und wenige Brocken Französisch beherrscht. Dieses Sozialdrama kommt aber so betulich und mit so hölzernen Dialogen daher, dass es weit hinter sehenswerteren Beiträgen des Genres zurückbleibt.

Je länger der Film dauert, desto schlimmer wird es: die Flüchtlinge werden plötzlich in einen Drogen- und Bandenkrieg in der Banlieue verwickelt. Im Kugelhagel versinkt die letzte Chance, diesen Film noch zu retten. Tiefpunkt ist der kitschige Epilog, der lieblos und unvermittelt noch drangeklatscht wurde.

„So viel Blut“, seufzt eine Figur. Aber leider auch so wenig Substanz! Während des Festivals in Cannes wurden Filme von ganz anderem Kaliber als Favoriten auf die Goldene Palme gehandelt. Vermutlich gab vor allem die politische Brisanz des Stoffes den Ausschlag, dass die prominente Jury, ein Glamour-Mix aus Schauspielerinnen, Regisseuren und weiteren Filmschaffenden, ausgerechnet diesen schwachen Film mit dem Hauptpreis auszeichnete.

„Carol“: 50er-Jahre-Melodram

„Carol“ von Todd Haynes ist mit so großen Vorschusslorbeeren gestartet, dass es kaum gut gehen konnte. Kurz vor dem deutschen Kinostart wurde auch noch bekanntgegeben, dass dieser Film die meisten Golden Globes-Nominierungen erhielt. Die Kritiken schwärmen von diesem Liebesmelodram.

Sicher: es ist Schauspielkunst, wie sich Carol (Cate Blanchett) und Therese (Rooney Mara) mit Blicken taxieren, einen vorsichtigen Flirt beginnen und langsam auf etwas im New York der 50er Jahre Unerhörtes einlassen: die Liebe zwischen zwei Frauen.

Ja: die Ausstattung der Räume ist erlesen, der ganze Film atmet den Zeitgeist der Eisenhower-Ära, bis ins Detail wurde alles sorgfältig durchdacht und nachgestaltet.

Aber nach all den Lobeshymnen auf den Film bleibt nach der Realitätsüberprüfung Enttäuschung zurück: etwas zäh und langatmig kommt dieser Film daher, in seiner Erzählweise erinnert er zu sehr an „Dem Himmel so fern„. Dieser andere große Erfolg von Todd Haynes schwelgte 2002 als Hommage an Douglas Sirk ebenfalls melodramatisch im 50er Jahre-Flair.

„Das brandneue Testament“: ideensprühende, belgische Komödie über einen misanthropischen Gott

In Cannes lief „Das brandneue Testament“ (Regie: Jaco van Dormael, Kinostart: 3.12.) im Gegensatz zu den beiden vorher genannten Werken nicht im offiziellen Wettbewerb um die Goldene Palme, sondern „nur“ in der Nebenreihe „Quinzaine des réalisateurs“. Dennoch sollte man diese wunderbare Komödie, die vor Phantasie geradezu überschäumt, auf keinen Fall verpassen.

Beim belgischen Regisseur Jaco van Dormael ist Gott kein gütiger Weltenlenker, sondern ein misanthropischer Kettenraucher (Benoît Poelvoorde in einer Paraderolle), der nicht nur seine Frau (Yolande Moreau) quält, sondern sadistische Lust daran empfindet, die armen menschlichen Kreaturen in immer neue Unglücke zu stürzen und am Gängelband seiner meist schlechten Laune zappeln zu lassen.

Der Film erzählt mit liebenswertem Humor, wie sich Tochter Ea (Pili Groyne) gegen ihren Vater auflehnt, den Menschen das genaue Datum des Todes per Kurznachricht aufs Smartphone sendet, große Unruhe stiftet und sechs Apostel um sich schart. Dieser Film ist ein großes, cineastisches Fest bunter Einfälle, getragen von herausragenden Schauspielern: neben den beiden Stars des belgischen Kinos, Poelvoerde und Moreau, ist auch Catherine Deneuve, die große Diva des französischen Films, zu erleben (unter anderem in einer Liebesszene mit einem Gorilla).

Es lohnt sich, Jaco von Dormael auf seine aberwitzige, anspielungsreiche Tour zu folgen, die mit der verdienten Strafe endet: Gott wird nach Usbekistan abgeschoben und muss dort am Fließband schuften.

„The Duke of Burgundy“: Peter Stricklands Kammerspiel über Macht und Unterwerfung

Es gehört fast schon zu den festen Ritualen der Berlinale, dass sich Wieland Speck, obwohl er sich als Programmchef der Reihe Panorama nach Kräften bemüht, vorhalten lassen muss, dass lesbische Figuren und Themen auch innerhalb des queeren Filmschaffens zu kurz kämen und der männliche Blick dominiere. Deshalb ist es schon ein bemerkenswertes Ereignis, dass neben der schon erwähnten „Carol“ in diesen Wochen mit „The Duke of Burgundy“ ein zweiter Film ein lesbisches Paar in den Mittelpunkt rückt.

Der britische Regisseur Peter Strickland lotet mit seinen beiden hervorragenden Protagonistinnen Sidse Babett Knudsen (in Deutschland vor allem seit ihrer Rolle als Premierministerin Brigitte Nyborg aus der dänischen Polit-Serie „Borgen“ bekannt) und Chiara d´Anna eine komplizierte Beziehung aus.

Auf den ersten Blick scheinen die Rollen klar verteilt: hier die dominante Cynthia (Knudsen), die ihr Dienstmädchen Evelyn (d´Anna) schikaniert und demütigt. Im Lauf des Films wird klar: die Fäden hat tatsächlich das vermeintliche Opfer in der Hand. Evelyn macht ihrer Lebensgefährtin detaillierte Vorgaben auf Karteikarten, wie ihre „Herrin“ sie ansprechen, welche Aufgaben sie ihr geben und welche Strafen sie ihr auferlegen soll.

Cynthias Emanzipation steht im Kern des Films: Sie ist es leid, „die Sklavin ihrer Sexsklavin zu sein. Die endlosen Forderungen Evelyns arbeitet sie mit wachsendem Widerwillen ab, denn Cynthias Lebenszweck scheint darauf reduziert, als Werkzeug für die sexuelle Befriedigung ihrer Partnerin zu dienen“, beschreibt critic.de den Konflikt.

Strickland und seinen beiden Hauptdarstellerinnen gelingt es, daraus ein intelligentes Kammerspiel über Macht, Dominanz und sexuelle Abhängigkeit zu entwickeln, das ganz auf nackte Haut und reißerische Effekte verzichtet.

Der einzige Kritikpunkt ist, dass sich der Film (Kinostart: 3.12.) streckenweise allzu manieriert daran berauscht, verschiedene Insektenarten in Detailstudien und Zeitlupenaufnahmen ins Bild zu rücken: die beiden Frauen verbindet auch eine wissenschaftliche Passion für die Insektenforschung.

3 thoughts on “Im Advent im Kino: „Carol“, „Dheepan – Dämonen und Wunder“, „Das brandneue Testament“, „Duke of Burgundy“

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