Die Berliner Bühnen starten hochpolitisch ins Jahr 2016: sie befassen sich mit alten Nazis und ihren Hinterlassenschaften, aber auch mit den neuen Nazis und ihrem Hass auf Flüchtlinge.
„Mein Kampf, Band 1 & 2“ von Rimini Protokoll: um den heißen Brei herum
In bewährter Manier holten Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll sechs „Experten des Alltags“ auf die Bühne. Sie haben gemeinsam, dass sie Hitlers Pamphlet „Mein Kampf“ – zumindest auszugsweise – gelesen haben.
Eine Akteurin (Sybilla Flügge) bekam das Buch als Jugendliche kurz vor der 1968er Studentenrevolte in die Hände: die Verstrickung der Elterngeneration wurde verschwiegen. Die Frage, wie es zur Barbarei der Nazi-Gewaltherrschaft kommen konnte, war ein Tabuthema.
Die ältere Dame erinnert sich, dass sie den Stil von Hitlers Pamphlet erstaunlich gut lesbar und weniger wirr fand, als häufig behauptet wird. Als kleine Provokation legte sie ihren Eltern ein selbstverfasstes Exzerpt unter den Weihnachtsbaum.
Auf einen anderen Teilnehmer dieser Recherche-Theater-Expedition (Alon Kraus) wirkte das Buch wie eine Art Lebenshilfe-Ratgeber. Mit breitem Grinsen erzählt der Anwalt aus Tel Aviv, dass ihm Hitlers autobiographische Erzählungen über die Agitation seiner NSDAP-Mitstreiter über eine Schreibblockade hinweghalf und wie er mit diesem Buch in der Hand am israelischen Mittelmeer-Strand einen Flirt mit einer deutschen Touristin begann.
Eine dritte Perspektive auf das Buch steuert die junge Juristin Anna Gilsbach bei: sie hat das Machwerk „Mein Kampf“ nach knapp zweihundert zähen Seiten genervt weggelegt. Ihr Part an diesem Abend ist es, über die neue Rechtslage aufzuklären, die seit wenigen Tagen gilt: 70 Jahre nach Hitlers Tod ist das Urheberrecht erloschen. Das Buch war schon bisher im Internet und in zahlreichen Fremdsprachen verfügbar. Da das Werk nun als gemeinfrei gilt, kann es nun aber im Prinzip jeder auch hierzulande nachdrucken und weiterverbreiten. Quer durch den Blätterwald wird bereits darüber diskutiert, ob man „Mein Kampf“ als Schullektüre für den Geschichtsunterricht nutzen könnte.
Das Münchner Institut für Zeitgeschichte brachte rechtzeitig zum Stichtag eine kritisch-kommentierte Gesamtausgabe des zweibändigen Werks heraus, die das rassistische, krude Weltbild auseinandernimmt und damit das Buch zu entmystifizeren versucht. Zum Stichtag gastiert auch das Recherche-Theater-Projekt „Mein Kampf 1 & 2“, das im September 2015 in Weimar uraufgeführt wurde, erstmals im koproduzierenden Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin.
Der als Collage aufgebaute Abend wirft Schlaglichter auf das verfemte Buch. Manches ist zum Schmunzeln, die Aneinanderreihung kleiner Geschichten wirkt oft skurril – getreu dem Motto: „Was Sie schon immer über „Mein Kampf“ wissen wollten, aber nie zu fragen wagten.“ Das Problem des etwas mehr als zweistündigen Abends ist, dass ihm ein Spannungsbogen fehlt. Wie um den heißen Brei kreisen die sechs Protagonisten herum.
Ihr Versuch, ständig neue, möglichst ungewöhnliche Blickwinkel auf das Buch zu finden, hat trotz massiver Kürzungen – die Probenfassung dauerte mehr als vier Stunden – mit Längen zu kämpfen. In ihrem Bemühen, möglichst leichtfüßig um eine zentrale Schrift der NS-Ideologie herumzutänzeln, können sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Mein Kampf“ gerade in Zeiten von Thilo Sarrazin, der an diesem Abend explizit erwähnt wird, AfD und Pegida immer noch eine heiße Herdplatte ist.
Der Abend hinterlässt deshalb gemischte Gefühle, dies gilt vor allem für die letzte Szene: die bereits erwähnte Sibylla Flügge liest darin den Abschiedsbrief ihrer Schwester an die Mutter, als sie sich 1972 der RAF anschloss und in den Untergrund ging. Was wollte uns Rimini Protokoll damit sagen? Dass die Wortwahl dieses Briefs und sein Anspruch, den Wert des Lebens unterschiedlich zu gewichten, ähnlich totalitär klingt wie viele Gedanken Hitlers? Erwartungsgemäß gab es im Publikumsgespräch zu diesem Punkt irritierte Nachfragen.
„Mein Kampf“ bietet einige interessante Recherche-Funde und witzige Beobachtungen, erreicht aber nicht das Niveau der gelungeneren Rimini Protokoll-Abende.
Film-Adaption „Kriegerin“: Wütende Raps auf Baustellen-Parcours im Grips Theater
Die Intensität des zurecht vielfach ausgezeichneten Films „Kriegerin“, zu erreichen, ist ein schwieriges Unterfangen. David Wnendt ließ 2011 bei seinem Regiedebüt mit rauer Sprache, grauen, ungeschönten Bildern und den beiden starken Hauptdarstellerinnen Alina Levshin und Jella Haase aufhorchen.
Autorin Tina Müller und Regisseur Robert Neumann verlegen die Handlung in eine Baustellen-Landschaft im GRIPS Theater. Das Ensemble ist unter Hochdruck fast ständig in Aktion: in Parcours-Einlagen hangeln sie sich über die Bühne. Zu dröhnenden Beats werden Parties gefeiert und rassistische Parolen gegrölt. Auf Marisa (Alessa Kordeck) und Svenja (Maria Perlick) übt die Neonazi-Clique eine ungeheure Faszination aus, sie wollen unbedingt dazugehören.
In den stärksten Momenten wird die Orientierungslosigkeit und Wut der Mädchen, die in ihren Elternhäusern weder Halt noch Vorbilder finden und den rechten Rattenfängern, deutlich spürbar. Die jugendliche Zielgruppe (ab 14 Jahren) war vor allem von den Rap-Einlagen (Lorris Blazejewski) begeistert und feierte das Stück nach der zehnten Vorstellung.
In die Dialoge werden außerdem Parolen im Pegida-Stil über Deutschland als „Warmduscher-Verein“ und gegen „Multikulti-Schönredner“ eingeflochten: eine provozierende Diskussionsgrundlage für die Workshops, die von der Theaterpädagogik des GRIPS Theaters in Kooperation mit „Gesicht zeigen!“ an Berliner Schulen angeboten werden.
Weniger gelungen als die dichte Atmosphäre ist jedoch die Konturierung der Figuren. Dies dürfte auch an der Regie-Entscheidung liegen, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler ständig zwischen mehreren Rollen wechseln: eben noch Neonazi, im nächsten Moment Flüchtling. Dementsprechend ist die Wandlung der Hauptfigur von der militanten Nazibraut zu einer mitfühlenden Figur, die Rasul bei seiner weiteren Flucht nach Schweden hilft, nicht ganz nachvollziehbar.