Rose Bernd

Jubelstürme für Lina Beckmann am Ende eines fast drei Stunden langen Abends am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Sie wirft sich mit ihrem ganzen Körper in die Rolle der „Rose Bernd“, der Titelfigur von Gerhart Hauptmanns naturalistischem Sozialdrama von 1903, das er unter dem Eindruck eines Gerichtsprozesses schrieb, an dem er als Schöffe beteiligt war.

Die Konflikte dieser Figur sind uns ein Jahrhundert später sehr fern: das junge Bauernmädchen fürchtet um ihre Ehre, kämpft gegen eine arrangierte Ehe und sieht am Ende keinen anderen Ausweg, als ihr Neugeborenes im Straßengraben umzubringen.

Aber Lina Beckmann spielt diese Verzweifelte so eindrucksvoll, mit schmerzverzerrtem Gesicht, mit den Armen rudernd, mit den Augen um Hilfe flehend, sich windend und krümmend, schwitzend und in den kurzen Momenten der Hoffnung keck auftrumpfend, dass sie es schafft, das Publikum auch heute noch einen langen Theaterabend hindurch für das Schicksal ihrer Figur zu interessieren.

Anfangs hat sie bei der Hamburg-Premiere der Inszenierung, die zum ersten Mal vor zwei Monaten während der Salzburger Festspiele zu erleben war, einige Probleme, sich in den schlesischen Dialekt dieses Stücks hineinzufinden, aber im Lauf des Abends meistert sie diese sprachlichen Barrieren souverän.

Einen starken Auftritt hat auch Gregor Bloéb als Arthur Streckmann, der Erpresser und Vergewaltiger der Rose Bernd. Er ist nicht so gockelhaft, wie die Rolle bei Hauptmann angelegt ist. Stattdessen genießt er seine Andeutungen und Drohungen mit zynischem Grinsen.

Regisseurin Karin Henkel lässt außerdem einen durchtrainierten Chor auftreten,
– die mal als frömmelnde Kirchgänger mit bis weit über die Karikatur hinaus aufgerissenen Mündern die heuchlerische Masse mimen, die Rose Bernd mit ihren strikten Moralvorstellungen in den Untergang treibt;
– die mal als Arbeiter die Kulisse für die Sticheleien und Machtkämpfe bilden
– und die das Publikum nach der Pause mit einem mit Bibelzitaten gespickten Kommentar zum Verhältnis der Geschlechter begrüßen.

Großen Applaus bekommen auch die sechs Mädchen, die im Chor erstaunlich synchron die Nebenrolle von Roses kleiner Schwester Marthel sprechen.

Zu kritisieren gibt es an diesem Abend natürlich auch einige Details: die Harlekin-hafte Verkleidung, die Schminke und die Unmengen von Lametta im Haar, mit denen Lina Beckmann während des 1. Akts ausstaffiert wurde, sind zwar ein Hingucker, erfüllen aber keinen nachvollziehbaren dramaturgischen Zweck. Auch die Tauben, die den Abend leitmotivisch prägen (auf den Kirchenfenster-Bildern als Friedenstauben, als Attrappen, denen die Hauptdarstellerin den Hals umdreht, sowie in natura in kleinen Käfigen auf der Bühne herumflatternd), kommen etwas zu penetrant vor. Zu manieriert wirkt außerdem das ständige Zittern und Schlottern des linken Arms von Maik Solbach, der Roses Verlobten August Keil spielt.

Insgesamt war diese „Rose Bernd“ ein starker Auftakt, der die Vorlage ernst nimmt und behutsam modernisiert. Das Schauspielhaus Hamburg hat damit einen ernstzunehmenden Anwärter für eine der zehn Einladungen zum Berliner Theatertreffen. Henkel/Beckmann sind dort keine Unbekannten. Sie waren zuletzt 2015 mit einer Bearbeitung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ eingeladen, die zwar sehr komisch, aber aus meiner Sicht weniger bemerkenswert war als ihre neue Zusammenarbeit bei der „Rose Bernd“.

Bild: Lalo Jodlbauer

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