Wenige Premieren dieser Spielzeit wurden mit so großer Spannung erwartet wie die Uraufführung von Elfriede Jelineks „Am Königsweg“. Schon kurz nach Trumps Wahlsieg haute die österreichische Autoren eine ihrer wütenden Textflächen in die Tastatur. Karin Beiers Schauspielhaus Hamburg sicherte sich den ersten Zugriff auf diesen Text. Als Regisseur wurde diesmal nicht Nicolas Stemann beauftragt, der in den vergangenen Jahren fast ein Abo auf die Jelinek-Uraufführungen zu haben schien, sondern Falk Richter.
Seine Arbeiten zeichnen sich durch eine mitreißende, sehr körperbetonte Energie und politisches Engagement aus. Beides passt gut zu Jelineks wütenden Textflächen. Zuletzt überzeugte er aber mit sehr persönlichen, gemeinsam mit den Tänzern und Spielern entwickelten Stücken, die er vorzugsweise in Berlin an der Schaubühne und am Gorki Theater inszenierte. Deshalb war die große Frage vor der Premiere, wie gut er sich Jelineks assoziations- und anspielungsreiche Suada voller Kalauer und Querverweise aneignen könnte.
Vor allem in der ersten Stunde dieses mit mehr als 200 Minuten sehr langen Abends ist die Ratlosigkeit des Regisseurs zu spüren. Er lässt den Text chorisch an einem großen Tisch oder gleich direkt an der Rampe sprechen. Das monotone Schreien wird von Flackern und Flimmern auf der Videoleinwand begleitet, im Hintergrund zappelt und zuckt Frank Willens. Er wirft sich in seine Posen, wie wir sie schon aus „Fear“ oder anderen Schaubühnen-Projekten kennen. Zu Jelineks sehr lesenswertem Text „Am Königsweg“ wird aber kein schlüssiger Bezug hergestellt.
In der zweiten Stunde bis zur Pause wird der Abend langsam stärker und hat einige schöne Theatermomente zu bieten: Anne Müller trifft das Wut-Staccato von Jelinek am besten. Ilse Ritter spricht die nachdenklichen Passagen über die Ohnmachtsgefühle angesichts des Rechtspopulismus und über das Altern sehr würdevoll. Vor allem musikalisch ist einiges geboten: Benny Claesens schmettert „One of us“ von Joan Osbourne und „Holding out for a hero“ von Bonnie Tyler, Julia Wieninger legt später „Fade into you“ von Mazzy Star nach. Tilman Strauß und Matti Krause rappen über „Mehr Geld Mehr Gold Mehr Golf“, den Song hat Matthias Grübel zu Richters Text komponiert. Alle gemeinsam treffen sich vor einem Wohnwagen und singen zur Klampfe den Lagerfeuer-Hit „Country Roads“.
Falk Richters Uraufführung von „Am Königsweg“ setzt außerdem sehr auf Komik: Idil Baydar darf mit Ausschnitten aus ihrem „Ghettolektuell“-Programm glänzen. Als Kunstfigur Ayse steht sie regelmäßig in der Berliner Bar jeder Vernunft auf der Kleinkunst-Bühne und kommentiert die Integrationsdebatte mit sarkastischen Giftpfeilen. Benny Claesens legt als ewig beleidigtes Riesenbaby mit Königskrone einen Auftritt hin, der zwar kaum noch als ernsthafte Auseinandersetzung mit Trump durchgehen kann, aber das Publikum als typische Benny Claesens-Nummer unterhält. Irgendwann kommt das Ensemble in den Kostümen bekannter Figuren aus der Muppet Show von Kermit bis zu den ewig grantlenden Waldorf und Statler, wie es sich Jelinek auf der ersten ihrer mehr als 90 Manuskriptseiten ausdrücklich gewünscht hat.
Das Problem des Abends ist, dass hier viel zu viel unverbunden nebeneinander steht. Idil Baydar legt ihr Solo hin. Cut. Benny Claesens darf seine Rockhymne singen. Cut. Jelineks Text, der einer ihrer besten und luzidesten seit längerer Zeit ist, wird hier unter Wert verkauft. Ein Beispiel: Relativ früh am Abend setzen die Schauspieler plötzlich Augenbinden auf und lassen sich Kunstblut über die Wangen rinnen. Ausgestochene Augen, der blinde Seher und der Ödipus-Mythos spielen bei Jelinek eine zentrale Rolle und werden im Text präzise hergeleitet. Auf der Bühne tauchen sie unmotiviert auf, verschwinden nach wenigen Szenen genauso schnell wieder und werden erst Stunden später erneut aufgenommen.
Der beste Teil des Abends ist die letzte halbe Stunde: Das liegt zum einen daran, dass Ilse Ritter noch ein paar gelungene Monologe als Alter Ego Jelineks darbieten darf. Sehr konzentriert reflektieren Jelinek/Ritter über die Grenzen des Einflusses einer Künstlerin auf Politik und Gesellschaft. Idil Baydar macht noch ein paar Einwürfe zur Perspektivlosigkeit der jungen Hartz IV-Empfänger in ihrem Neuköllner Kiez. Diesmal korrespondiert das auch recht gut mit dem beeindruckenden Auftritt von Matti Krause als wütendem weißen jungen Mann, der sich in rassistische Tiraden hineinsteigert und eine Ku-Klux-Klan-Kapuze aufsetzt.
Aus all diesen beschriebenen Mosaiksteinen wird aber leider kein stimmiges Ganzes. Das Schauspielhaus Hamburg hat einen lustigen, oft auch anregenden Premierenabend zu bieten, der seinen Abwechslungsreichtum aus verschiedenen Quellen speist. Dem Jelinek-Text wurde diese Uraufführung jedoch nicht ganz gerecht. Dort wäre wesentlich mehr herauszuholen gewesen. Vielleicht gelingt das in den nächsten Inszenierungen. Andere große Häuser wie das Schauspielhaus Zürich und das Deutsche Theater Berlin haben bereits „Am Königsweg“-Premieren angekündigt.
Bilder: Arno Declair