Vor Sonnenaufgang

In Zeitlupe kreist die Drehbühne im Haus der Ruhrfestspiele in Recklinghausen. Ihr Ächzen lässt sich deutlich vernehmen. In zweieinhalb pausenlosen Stunden nimmt der Untergang einer Familie ihren Lauf. Die Spielerinnen und Spieler des koproduzierenden Deutschen Theaters Berlin, das den Abend zum nächsten Spielzeitauftakt im September ins Repertoire der Kammerspiele nehmen wird, bleiben die ganze Zeit über in fahlem Dämmerlicht. Erst als Martha (Franiska Machens) ihre Totgeburt erleidet, auf die das ganze Drama zusteuert, werden die Scheinwerfer für kurze Momente eingesetzt und blenden das Publikum schmerzhaft.

Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ muss im wilhelminischen Berlin ein Skandal gewesen sein, berichten die Chroniken. Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer versuchte eine Neuschreibung des Stoffs unter demselben Titel, die in Basel 2017 von Nora Schlocker uraufgeführt wurde und in der Regie von Jette Steckel ihre deutsche Erstaufführung erlebt.

Aus der Bauernfamilie Krause wird bei Palmetshofer eine Fabrikanten-Familie. Der eingeheiratete Schwiegersohn Thomas Hoffmann (Felix Goeser) wirkt wie der Prototyp eines FDP-nahen Mittelständlers. In den Rededuellen mit seinem Studienfreund Alfred Loth (Alexander Simon), der für ein linkes Wochenmagazin arbeitet, muss er sich dafür rechtfertigen, dass er seine Weltanschauung geändert hat. Im Programmheft-Interview spricht Palmetshofer mit viel Herzblut ausführlich über die beiden Antipoden, beklagt wortreich die Entsolidarisierung und „neoliberale Strukturen“. Der Dialog von Hoffmann und Loth im Stücktext bleibt papiern, er hat zu wenig Bezug zu den übrigen Handlungssträngen.

Zentrale Motive des Hauptmann-Originals tauchen auch bei Palmetshofer auf: der Alkoholismus von Vater Egon Krause (Michael Goldberg), der von seiner Frau Annemarie (Regine Zimmermann) nach dem Kneipenbesuch zur Rede gestellt wird, der scheiternde Flirt zwischen Helene Krause (Maike Knirsch) und Alfred Loth, die Depression von Krauses erster Frau, an der auch seine Tochter Martha leidet, und schließlich die Totgeburt von Marthas Kind, die auch der Arzt Dr. Peter Schimmelpfennig (Timo Weisschnur) nicht verhindern kann.

Palmetshofer arrangierte dies mit knappen Dialogen, die von Kalauern und unvermittelten Brüchen geprägt sind, in denen sich die Unsicherheit seiner Figuren spiegelt. In Jette Steckels Inszenierung ist vor allem die bleierne Traurigkeit der Familie Krause zu spüren, mit der sie auf der Drehbühne auf der Stelle treten und langsam ihrem Untergang entgegen dämmern. Erst gegen Ende gönnt Steckel sich und uns etwas Abwechslung und greift in ihre umfangreiche Musiksammlung. Das Finale ist mit mehreren kurzen Schnipseln unterlegt, u.a. mit Austro-Pop von „Bilderbuch“.

Bilder: Arno Declair

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