Zwei Stunden lang halten acht Performer*innen einem zerrissenen Kontinent den Spiegel vor. In einem Mix aus autobiographischen Schnipseln und den von Nir de Volff gewohnt präzise choreographierten Zuckungen der Tänzer*innen schreibt Falk Richter in einer paneuropäischen Koproduktion seine Schaubühnen-Arbeiten fort.
Dem Abend, der nach der Uraufführung am Théâtre National de Strasbourg seine Deutschland-Premiere zum Abschluss der Lessingtage auf der Thalia-Studiobühne in der Altonaer Gaußstraße feierte, ist noch deutlich anzumerken, dass er in Workshops entwickelt wurde. „I am Europe“ ist eine anregende Skizze mit einer Fülle an biographischem Material, kleinen Geschichten und zu vielen Themen, die aber eher noch Sto eine Stoffsammlung ist als ein bereits fertiger Tanz-Theater-Abend. Symptomatisch steht dafür, dass „I am Europe“ am Ende sehr unvermittelt auch noch die Themen Glyphosat und ökologische Wende in der Landwirtschaft aufgreift, damit noch weiter ausfranst und sehr abrupt endet.
Neben dem Oberthema des zerrissenen Kontinents trieben Falk Richter und sein Team im Stückentwicklungsprozess vor allem folgende Fragen um:
Wie sollen wir mit dem Phänomen der „Gelbwesten“ umgehen? Die Performer*innen sind sich einig, dass Emmanuel Macron bei seiner TV-Ansprache, bei der er nach der ersten Welle der Eskalation den Demonstrant*innen mit kleinen Zugeständnissen entgegen kam, lächerlich und hilflos wirkte. Aber wie sind die Proteste zu bewerten? Steckt dahinter mehr als nur ohnmächtige Wut? Gibt es eine positive Vision oder sind die „Gelbwesten“ eine im Kern reaktionäre Bewegung?
Wie können Theater-Inszenierungen die Diversität der Gesellschaft besser abbilden? In einer zur Karikatur überspitzten Szene, die mehrfach in den Spielfluss hineingeschnitten wird, bekniet Douglas Grauwels seine Kollegin Khadija El Kharraz Alami, dass sie ihren Namen pro forma für den Förderantrag hergeben soll. Als lesbische, marokkanisch-stämmige, islamische Künstlerin erfülle sie gleich drei Quoten und lasse damit das Herz jeder Kulturbürokratie-Auswahlkommission höher schlagen, hofft der heterosexuelle, weiße Mann Douglas Grauwels, der seinen Antrag für eine Performance zu alternativen Währungssystemen zum Euro aufpimpen möchte. Hieran schließen sich natürlich noch einige Exkurse zur jahrelang schwelenden Griechenlandkrise und kritische Töne der meist südeuropäischen Spieler*innen zur harten Austeritätspolitik der EU-Troika an, auf die vor allem die Bundesregierung pochte.
Ein weiterer Strang dieses thematisch überbordenden Abends ist die Suche nach Modellen jenseits der traditionellen Familie. Tatjana Pessoa und Gabriel Da Costa erzählen von ihrer Beziehung zu dritt. Wie sie schon in Falk Richters „Città del Vaticano“ berichteten, das 2016 am Wiener Schauspielhaus Premiere hatte, leben sie mit einem Mann in einer Patchwork-Konstellation zusammen und erziehen gemeinsam ein Kind. Für Falk Richters Lieblings-Gegnerin Beatrix von Storch, die diesmal im Gegensatz zu „Fear“ nicht namentlich genannt wird, ist die „Ehe zu dritt“, die Pessoa und Da Costa in einem Appell an den belgischen König propagieren, sicher eine Horrorvorstellung. Sein langjähriges Engagement für queere Alternativen zu heteronormativen Mustern wird in zwei Wochen im Rahmen der Berlinale mit einem Special Teddy bei der Preisverleihung in der Volksbühne gewürdigt.
Selbstverständlich ist auch die Migrationspolitik immer wieder während der zwei Stunden präsent: neben kurzen Verweisen auf Frontex gibt es längere autobiographische Berichte von Gabriel Da Costa, dessen Eltern vom damaligen französischen Präsidenten Francois Mitterand als Arbeitsmigranten aus Portugal angeworben wurde, vom algerisch-stämmigen Mehdi Djaadi über das Massaker von Paris während des Algerienkriegs 1961 oder von Lana Baric, wie in den Balkan-Kriegen die Nachbarn zu Mördern wurden. Der französische Tänzer Piersten Leirom erzählt von den zahlreichen Hürden, die sein kolumbianischer Freund nehmen muss, um ein Visum zu beantragen und ihn schließlich zu heiraten.
Diese Flut an spannenden und wichtigen Themen wird in den kurzen zwei Stunden so atemlos angerisssen, dass zu hoffen bleibt, dass auf den zahlreichen weiteren Koproduktions-Stationen noch die Zeit zum Feinschliff an „I am Europe“ bleibt und die Inszenierung noch mehr inhaltliche Schärfe bekommt.
Bilder: Jean-Louis Fernandez