Der Sturm hebt erst ganz am Ende nach mehr als vier Stunden an. Jens Harzer, der Ich-Erzähler, tigerte in einem großen Monolog über die Bühne und erzählt vom Österreich der Gegenwart, das nichts mehr mit dem Jauntal von Handkes Kindheit zu tun hat. Nach einem letzten Stoßseufzer, in dem er melancholisch von den Atabaquen erzählt, die sich in ihrem Reservat über die Köpfe der Touristen zuwinken, versinkt die Bühne kurz in Schwarz, bevor der Beifall für den frischgebackenen Iffland-Ring-Preisträger losbrandet.
Pünktlich zur allerletzten Vorstellung von „Immer noch Sturm“, einer Koprduktion der Salzburger Festspiele und des Hamburger Thalia Theaters, die als Gastspiel an der Berliner Volksbühne stattfand, wurde der letzte Wille von Bruno Ganz bekannt: Jens Harzer soll sein Nachfolger als Iffland-Ring-Preisträger werden. Ein Schauspieler der leisen Töne, wie aus einer anderen, untergegangenen Ära. Entdeckt von Dieter Dorn, der ihn noch als Schauspielstudent an die Münchner Kammerspiele engagierte und ans Residenztheater mitnahm. Nach dem Ende dieser Ära ging er ans Thalia Theater, wo er seit 2009 im Ensemble ist.
„Die Sprache ist Harzer wichtiger als den meisten anderen Schauspielern seiner Generation“, würdigt ihn Anke Dürr in einem Porträt auf SPIEGEL Online. Harzer arbeitete in den vergangenen Jahren vor allem mit großen, alten Männern des Theaters zusammen, die in der Tradition von Dorn den Text in den Mittelpunkt stellen. Das verbindet seine Arbeiten: als Arzt Astrow bei Jürgen Gosch im Onkel Wanja (Premiere 2008 am DT, seitdem unregelmäßig immer noch auf dem Spielplan), als Achill in der „Penthesilea“ von Johan Simons oder als Ich-Erzähler hier in „Immer noch Sturm“, einer der letzten Inszenierungen von Dimiter Gotscheff.
Acht Jahre ist diese Aufführung mittlerweile alt. Sie scheint aber aus viel ferneren Zeiten herübergeweht. Die Uraufführung von Handkes Familien-Aufstellungs-Saga, die den Bogen vom Jahr 1936 bis in die jüngste Vergangenheit schlägt, ist eine große Beschwörung der Ahnen. Krasser könnte der Gegensatz zum Sturm nicht sein: sanft und monoton rieseln grüne Papierschnipsel auf die Bühne (Katrin Brack), während der Ich-Erzähler seine Familie aus dem Hintergrund hervorholt.
Der Stil der Inszenierung polarisiert: „Es wird viel geredet und geraunt in dieser Inszenierung, die unendlich lang und langsam ist“, schrieb Hartmut Krug treffend in seiner Salzburger Premieren-Nachtkritik. Hier ist ein Star-Ensemble (neben Harzer weitere große Namen wie Gabriele Maria Schmeide oder Hans Löw) zu erleben, das tief in die Vergangenheit eintaucht, dabei aber oft manieriert wirkt.
Dirk Pilz hat dies damals in der NZZ als „bleierne Virtuosität“ bezeichnet. Treffender kann man die ambivalenten Eindrücke, die „Immer noch Sturm“ hinterlässt, nicht beschreiben.
Bild: Armin Smailovic