Dialoge 2020 – Relevante Systeme

Auf dem weitläufigen Gelände des Radialsystems am Spree-Ufer schallt die Stimme der Publizistin Carolin Emcke schon vor dem Beginn der Choreographie aus den Boxen. Sie trägt Passagen aus „Gegen den Hass“ vor, die sich mit dem Tod des asthmakranken Afroamerikaners Eric Garner befassen, der im Sommer 2014 im Würgegriff der New Yorker Polizei „I can´t breathe“ hervorpresste, bevor er starb.

Die weltweite Empörung über rassistische Polizeigewalt und Solidaritätsaktionen mit der „Black Lives Matter“-Bewegung erreichte in diesem Frühsommer nach dem Mord an George Floyd einen neuen Höhepunkt.

Eindringliche, kurze Szenen symbolisieren den Protest der Bewegung, die Bilder sind allerdings oft sehr naheliegend: ein schwarzer Sklave zerrt schwitzend einen Holzblock an Ketten hinter sich hier und liegt am Ende seiner Kräfte darauf, ein anderer Tänzer trägt nur noch Fetzen seiner durchnässten Kleidung und irrt über das Gelände. Stumme Verzweiflung verbindet diese Miniaturen, während der Trompeter Marco Blaauw (Ensemble Musikfabrik Köln) von einem erhöhten Punkt aus „I can´t breathe“ spielt: schmerzverzerrte, dissonante Töne, die der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas 2014 als Reaktion auf den gewaltsamen Tod von Eric Garner schuf. Die Staatsballett-Uraufführung seiner „Sym-Phonie 2020“, die Sasha Waltz für April geplant hatte, zählt zu den zahlreichen Premieren, die Corona zum Opfer fielen.

Eine verzweifelte, dissonante Grundstimmung prägt auch die kurze Unplugged-Version von „Sacre“ auf dem Rasen vor dem Radialsystem. Eigentlich sollte die Inszenierung, die Sasha Waltz im Oktober 2013 an der Staatsoper Berlin als Auftragswerk zum 100. Jubiläum der Uraufführung von Igor Strawinskiys Schlüsselwerk der Moderne konzipierte, dort im August wiederaufgenommen werden. Nachtkritik beschrieb den Abend damals als „hitzige Gruppenorgie“ voller „Küsse, Bisse, Umarmungen“, wie eine Zwischenüberschrift lautete. In der Corona-konformen halbstündigen Kurzfassung des Werks blieb davon natürlich nur noch das Skelett übrig.

Anschließend wurde das Publikum in drei Gruppen mit unterschiedlichen Armbändern aufgeteilt. Zum Ausklang des Abends flanierte und tänzelte das Ensemble zu „Bolero“-Klängen mit kleinen Duetten und Miniaturen durch die streng auf Abstand gehaltenen Publikumsreihen.

Sehr vorsichtig tastend startete Sasha Waltz mit ihrer Compagnie und vielen freien Tänzer*innen in diese Corona-Spielzeit. Dramaturgisch wirkt der Abend wesentlich holpriger als wir es von den durchdachten Inszenierungen der Star-Choreographin gewohnt sind. Zwischen den drei Teilen des knapp 90minütigen Abends gibt es nur ein verbindendes Element: das Ausprobieren und Vorantasten, was in dieser Pandemie-Ausnahmesituation künstlerisch dennoch möglich ist.

Bilder: Luna Zscharnt

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