Gab es in der Geschichte des Theatertreffens jemals ein Stück, das so offensiv mit einer Einladung in die 10er Auswahl kokettiert? Zum Auftakt in ihre letzte Spielzeit, bevor die Intendanz am Theaterhaus Jena wechselt, hat sich das Ensemble gemeinsam mit Walter Hart vom niederländischen Wunderbaum-Kollektiv auf ein Thema gestürzt, das der Aufreger der vergangenen Spielzeit war.
Choreograph Marco Goecke fühlte sich von FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster so verletzt, dass er während der Pause einer Premiere die Exkremente seines mittlerweile verstorbenen Dackels Gustav in ihrem Gesicht verrieb. Daraus einen Abend zu machen, das müsste doch die Feuiiletons von SZ bis ZEIT und die Theatertreffen-Jury endlich in die thüringische Provinz locken, schwärmt Pina Bergemann. Gut, immerhin sei Simon Strauß schon 2x hier gewesen, aber meist berichte nur die Lokalredaktion von der OTZ.
„Die Hundekot-Attacke“ ist eine unterhaltsame Auseinandersetzung mit den Hypes und blinden Flecken des Betriebs. Das Bühnenbild ist auf Mikroständer vor einer Großleinwand eingedampft, angeblich sei der Abend gescheitert. Man habe sich entschlossen, immerhin den Mailverkehr der vergangenen Monate vorzulesen. In diesen Mails sprechen sich die Ensemble-Mitglieder mit ihren echten Namen an und auch die kollektive Arbeitsweise am Theaterhaus Jena, wo in den vergangenen sieben Jahren ein interessanter Hybrid aus Stadttheater und Freier Szene erprobt wurde, ist real. Diese Mail-Korrespondenz hat es aber natürlich nie gegeben, sie ist im sechswöchigen Stückentwicklungs- und Probenprozess entstanden. Genüsslich sticheln die Spieler*innen gegeneinander, demonstrieren typische Gruppendynamiken und raufen sich zusammen. Vor allem dient der Text aber dazu, Fragen an den Betrieb humorvoll zu verpacken: Leon Pfannenmüller berichtet über Kritiken zu seiner ersten Hauptrolle, die ihn damals als Berufseinsteiger verletzten. Wie können sich Künstler gegen Kritik wehren, ohne einen derartigen Regelbruch wie Goecke zu begehen? Nach welchen Mechanismen arbeitet die Theaterkritik, was erregt ihre Aufmerksamkeit? Welche strukturellen Mechanismen wie fehlende Budgets für Reisekosten verhindern, dass die sogenannte Provinz wahrgenommen wird?
Dies alles und noch einiges mehr verhandeln die Jenaer Spieler*innen in „Die Hundekot-Attacke“ und zeigen dem Betrieb einen Stinkefinger mit Küsschen, wie Marlene Drexler in ihrer Nachtkritik so schön schrieb. Aber auch dafür bekam sie nur die üblichen 100 €, wie das Theaterpublikum erfährt.
Immerhin sind Wunderbaum und das Theaterhaus Jena zum Ende ihrer siebenjährigen Reise mit ihrer Meta-Komödie endlich dort angekommen, wo sie hin wollten: auf den großen Festivals wie dem Heidelberger Stückemarkt und dem Berliner Theatertreffen, dem Zentrum der sich selbst bespiegelnden Theaterblase.
Als Sahnehäubchen gab es am Schlusstag des Festivals gleich zwei Preise für das „Hundekot-Attacke“-Team: dass die Produktion in diesem Jahr den mit 10.000 € dotierten 3sat-Preis für eine besonders innovative künstlerische Leistung nach der allerletzten Vorstellung des Theatertreffens bekommen würde, war schon vorab bekannt. Außerdem durfte sich der in Russland geborene Nikita Buldyrski über den Alfred Kerr-Preis freuen, den ihm Ursina Lardi für die herausragendste Leistung eines jungen Schauspielers überreichte. „Jeder Satz ein Treffer“, jubelte der Schaubühnen-Star in ihrer Begründung. In dem gescripteten, fiktiven Mail-Verkehr spielt er den Außenseiter und Ensemble-Neuling, der sich mit dem Platzhirschen Leon Pfannenmüller besonders lustige, passiv-aggressive Duelle liefert.
Im August 2024 setzte sich der Preisregen für die „Hundekot-Attacke“ bei der Wahl der Jahresbestenliste von Theater heute fort: sie teilen sich den Titel „Inszenierung des Jahres“ mit dem Hamburger Laios-Solo. Das gesamte Kollektiv wurde als Nachwuchs-Autoren-Team gewürdigt, Hannah Baumann teilt sich den Titel „Dramaturgin des Jahres“ mit Kolleginnen aus Bochum und Hamburg, Linde Dercon, die hier als vermeintliche Tänzerin agiert, teilt sich den Titel „Nachwuchsschauspielerin des Jahres“ mit einer Kollegin aus der Berner „Blutbuch“-Bearbeitung.
Bild: Joachim Dette