Tiefes Schwarz verschlingt an diesem knapp zweistündigen Abend fast alles: in diesem gierigen Schlund versinken die Erinnungen und Interview-Schnipsel mit den Frauen, die in den 1960er Jahren als „Gastarbeiterinnen“ von Telefunken in diesem Wohnheim in Berlin-Kreuzberg unterkamen. Hier versinken auch die in den Romanen „Die Brücke vom Goldenen Horn“ und „Seltsame Sterne starren zur Erde“ von Emine Sevgi Özdamar erzählten Anekdoten deutsch-deutscher Theatergeschichte aus Gorki-Nachbarhäusern wie dem Berliner Ensemble und der Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz. Und aus diesem Schlund spült es immer wieder Reichskanzler Otto von Bismarck nach oben, der wie wir aus dem Abendzettel lernen, in der preußischen Akademie gedrillt wurde, die hier stand, einige Jahrzehnte bevor die Arbeiterinnen mit kurdischem, armenischem, türkischem Hintergrund hier einzogen, die für die bundesrepublikanische Gesellschaft nur eines waren: Fremde, austauschbare, billige Arbeitskräfte.
Mit seinem in vielen Frank Castorf-Inszenierungen gestählten Brüllorgan nimmt sich Frank Büttner als Bismarck den Raum und wird mit seinen lautstarken Auftritten einer der Fixpunkte in dieser düsteren Erinnerungs-Seancé, die ansonsten zu oft in einer trüben, zähen Suppe zu versinken droht.
Die entschleunigte Zombie-Ästhetik, das oft nur in Konturen erkennbare und sich wie in Zeitlupe bewegende Ensemble und auch leitmotivische Trauma-Sätze wie Eva Maria Kellers verzweifelt-demente, oft wiederholte Frage: „Sind Sie meine Enkelin?“ sind aus Ersan Mondtags Inszenierungen vertraut, insbesondere aus seiner überraschend zum Theatertreffen eingeladenen Wiesbadener „Double Serpent“. Till Briegleb, lange für die Süddeutsche Zeitung als Kritiker im Einsatz wechselte schon damals die Seiten, machte die Dramaturgie und firmiert diesmal als Co-Autor von Regisseur Mondtag.
Ebenfalls aus früheren Arbeiten bekannt ist Mondtags Geschichtspessimismus, dass rechtes Gedankengut in unserer Gesellschaft brodelt. Immer öfter hallen Wortfetzen von Remigration oder Parolen der rechten Szene von Emre Aksızoğlu durch diese schwarze Albtraum-Welt, die im erwarteten Inferno aufgeht.
Nur selten wird die Erinnerungs-Blackbox etwas aufgehellt, z.B. wenn der Arbeiterinnenchor hereinrauscht und von der Brüstung seine Lieder anstimmt. Ein Chor, von dessen Entstehung die Gorki-Intendantin Shermin Langhoff schon beim Theatertreffen-Nachgespräch zu „Unser Deutschlandmärchen“ stolz erzählte. Ihre letzte Spielzeit und ihren 7. Herbstsalon unter dem Titel „ЯE:IMAGINE“ war ihr großer Wunsch.
Fast unter gehen die Motive aus den genannten Romanen von Emine Sevgi Özdamar, die zum Schlussapplaus auch im Wimmelbild aller Beteiligten auf der Bühne steht: noch einmal Frank Büttner hat einen komödiantischen Auftritt als Helene Weigel. Die beiden Quartette aus vier jüngeren und vier älteren Spielerinnen, darunter eine Gorki-Legende wie Ursula Werner, gewinnen in diesem Dauer-Schwarzgrau aus Interview-Schnipseln, Doku-Biographie-Einspielern und Roman-Motiven leider kaum Konturen.
Mit „Das rote Haus“ eröffnete der Gorki Herbstsalon am 2. Oktober 2025: neben vielen Performances und weiteren Premieren in beeindruckend hoher Schlagzahl sind hier auch Werke der bildenden Kunst und Installationen zu erleben, die um den Begriff Erinnerung kreisen.
Bilder: Thomas Aurin