Nicolas Stemann verlangt dem Publikum in der Premiere von Bertolt Brechts Lehrstück Die heilige Johanna der Schlachthöfe einiges ab: Drei Stunden inklusive einer kurzen Pause zeichnet der Regisseur die ökonomischen Thesen des Großmeisters des politischen Theaters nach. In rascher Szenenfolge scheint der Fleisch – Spekulant Mauler schon mehrmals am Ende, nur um im übernächsten Moment wieder als Sieger hervorzugehen. Seine Gegenspielerin Johanna Dark, die als naive und fromme Predigerin eines harmonischen Dialogs und sanfter Reformen auftritt, erreicht mit ihren scheinbaren kleinen Schritten zum Besseren, mit denen sie das Elend der Arbeiter im Chicago zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise 1929/30 lindern möchte, nur das Gegenteil. Am Ende sitzt Mauler fester im Sattel denn je: Er besitzt ein Monopol über den Fleischmarkt und kann mit verschlankter Belegschaft zu geringeren Löhnen satte Gewinne abschöpfen.
Bei Brecht ist alles klar: Im Stil seines epischen Theaters will er seine Zeitgenossen davon überzeugen, dass es nur einen Ausweg gibt, nämlich den Generalstreik und die Revolution der kommunistischen Partei. Das kapitalistische System sorgt für Armut und verhindert ein menschenwürdiges, moralisches Leben. Seine Hauptfigur Johanna Dark, ein ehrenwertes Mitglied der fiktiven Schwarzen Strohhüte, mit denen er die Heilsarmee parodiert, muss am Ende das Scheitern ihrer guten Absichten eingestehen: "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und / Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind." Sie stirbt am Ende als Märtyrerin im Kugelhagel.
Ganz anders ist der Zugriff von Stemann auf dieses Stück. Seine Johanna darf zwar auch den berühmten Schlussappell sprechen. Im nächsten Moment taucht Katharina Marie Schubert aber im glitzernden Kostüm auf der Bühne auf und stimmt mit den Börsianern und Unternehmern in das zynische Lied "Reichet den Reichen den Reichtum, Hosianna!" ein. Eine Szene, die typisch für diesen Abend und den aus anderen Stemann – Inszenierungen bekannten Regiestil ist: Kaum wird ein Gefühl geäußert, wird es kurz darauf schon ironisch gebrochen und ins Gegenteil verkehrt. Alles ist wahr, nichts ist wahr, lautet die Devise.
Seine Schlusspointe dreht Stemann noch etwas weiter: Margit Bendokat als verarmte Arbeiterwitwe in Trainingsjacke und mit Plastiktüten giftet in ihrem unnachahmlichen Ton die eben noch so strahlende Titelheldin Johanna an: "Du warst nie eine von uns!" Sie ruft zum Generalstreik auf, dreht sich wütend weg und wird hinterrücks erschossen. Johanna kommentiert dies nur mit einem knappen "Huch", als ob nur auf einer Cocktailparty ein Glas runtergefallen wäre.
Mit diesen Wendungen entlässt der Regisseur sein Publikum in die Nacht. Im Vorgespräch erklärte eine Dramaturgin noch, dass Stemann große Sympathien für Brechts fundamentale Systemkritik hat. Sein Stück sperrt sich aber gegen jede klare Lösung. Die aktuelle Finanzkrise, in der das alte Brecht – Stück an vielen Bühnen eine Renaissance auf den Spielplänen erlebt, ist eben zu undurchsichtig und nicht mit einfachen Rezepten zu lösen. Schon gar nicht ist sie direkt mit der Weltwirtschaftskrise 1929/30 zu vergleichen, vor deren Hintergrund Brecht das Stück verfasste, das jedoch erst nach seinem Exil 1959 uraufgeführt wurde.
Symbolisch für die Undurchsichtigkeit der Verhältnisse steht, dass der "böse Kapitalist" Mauler und die übrigen Wirtschaftsbosse oder Spekulanten keinem Schauspieler klar zugeordnet werden: Das Trio Felix Goeser, Matthias Neukirch und Andreas Döhler schlüpft abwechselnd in diese Rollen. Für das Publikum ist manchmal schwer zu erkennen, wer gerade spricht. Auch dies ist ein typisches Versatzstück aus Stemanns Regiebaukasten, das er schon bei seiner zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Inszenierung von Schillers Räubern einsetzte. An diesem Abend ist es aber durchaus sinnvoll: Der ständige Wechsel der Rollen innerhalb des Oligopols steht dafür, dass die Strukturen für Außenstehende intransparent und keine klaren Verantwortlichkeiten der Akteure erkennbar sind.
Der herausfordernde Abend ist durchaus spannend, spaltete aber sein Publikum: Bei der A – Premiere hielten sich Buh – und Bravo – Rufe die Waage, bei der B – Premiere gab es überwiegend freundlichen Beifall. Jedoch blieben erstaunlich viele Plätze schon zu Beginn leer und Egon Bahr als einer der letzten aufrechten Sozialdemokraten aus besseren Tagen verließ das Deutsche Theater schon zur Pause.
Weitere Informationen und Termine
Die Bildrechte liegen bei Arno Declair und dem Deutschen Theater Berlin.