Großer Auftritt von Christoph Schlingensief

Am vierten Adventssonntag stand ein besonderer Leckerbissen auf dem Spielplan: Der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief war bei der Matinee Gregor Gysi trifft Zeitgenossen im Deutschen Theater zu Gast.

Seine Krebserkrankung wurde in den vergangenen Monaten von den Medien und ihm selbst ausführlich thematisiert. Auch wenn die Medikamente bei Schlingensief gut wirken und die Ausbreitung von Metastasen zum Glück gestoppt ist, ist es leider doch absehbar, dass er wohl nicht mehr sehr lange leben wird, wie die beiden Gesprächspartner am Ende mitteilten. Vor diesem Hintergrund wirken der sprühende Ideenreichtum und Witz des Multitalents um so verblüffender, mit dem er das Publikum in seinen Bann schlug und die Dauer des Gesprächsformats auf satte zweieinhalb Stunden überzog. Schade, dass Gysi gegen 13.30 Uhr mit schuldbewusstem Blick zur Uhr Schluss machen musste: Diese Paarung hätte noch Stoff für mindestens zwei weitere Runden gehabt.

Immerhin konnte das Publikum in aller Ausführlichkeit viel über die Entwicklung des Mannes erfahren, der 1960 wohlbehütet in kleinbürgerlichen Milieus Oberhausens aufgewachsen ist. Seine Mutter wusste angeblich bis vor wenigen Jahren nicht, welche exzentrischen und provokativen Filme, Aktionen und Theaterabende ihr Christoph inszeniert. Der Vater ließ sie nämlich im Glauben, dass er Landschaftsdokumentarfilme drehe und schnitt die Videoaufnahmen jeweils entsprechend zusammen, bevor er sie ihr zeigte.

Als ihn die Hochschule für Film und Fernsehen in München abgelehnt hatte, obwohl Wim Wenders sich für ihn eingesetzt hatte, quälte er sich durch theorielastige Seminare an der Münchener Ludwig – Maximilians – Universität. Ihn faszinierte ein – wie er es nannte – „Studium Generale“ im wirklichen Leben bald mehr, das er in seinem Mietshaus im Bahnhofsviertel mehrere Jahre erlebte: Ein Nachbar trat regelmäßig die Tür ein, die Heizung funktionierte nicht. Entweder war sein Zimmer völlig überhitzt oder der Frost klirrte am Waschbecken. Eine andere Nachbarin empfing Freier als Prostituierte. Schlingensief hatte das Glück, in die Clique des Autors Thomas Meinecke aufgenommen zu werden, der Anfang der 1980er Jahre gerade mit der Band Freiwillige Selbstkontrolle erste Erfolge feierte. Er stopfte seinen Nachbarn mit den Klassikern von Nietzsche bis Schopenhauer voll und lud ihn zu seinem Diskussionszirkel ein. Drei Mal täglich ging es außerdem ins Kino. Seine Helden waren Bunuel, Godard und die deutschen Autorenfilmer Fassbinder, Kluge und Wenders.
Gysi fasste diese wilden Jahre mit dem süffisanten Kommentar zusammen: „Jetzt weiß ich auch, warum Du so geworden bist!“

Anschließend ging er zurück in die Heimat und wurde Assistent des Professors Werner Nekes in Mülheim an der Ruhr, der ihn für mehrere Experimentalfilme inspirierte. In dem Umfeld trieb sich auch Helge Schneider rum, der in zwei Garagen mit Durchgangstür lebte und die Freunde regelmäßig zu Tiefkühlspinat und Spiegelei einlud. Schlingensiefs erste Aufführungen waren oft ziemliche Flops. Als er Menu total bei der Berlinale 1986 in der Sektion Internationales Forum des jungen Films präsentierte, strömte das Publikum wegen der grobkörnigen Bilder und der schrillen Handlung bereits nach zehn Minuten scharenweise zum Ausgang. Immerhin war die Schauspielerin Tilda Swinton, die damals gerade mit Derek Jarmans bahnbrechendem Film Caravaggio bekannt wurde, so hingerissen, dass sie sich in ihn verliebte.

Einer größeren Öffentlichkeit wurde Christoph Schlingensief mit seiner umstrittenen Deutschland – Trilogie bekannt: 100 Jahre Adolf Hitler, Das deutsche Kettensägenmassaker und Terror 2000 werden teilweise noch heute vom Fernsehen boykottiert und sorgten Anfang der 1990er Jahre in Kinos für hitzige Debatten und Proteste. Er setzte sich darin mit der Euphorie nach dem Mauerfall sowie den rechtsextremen Anschlägen von Rostock, Mölln, Solingen, etc. auseinander und schaffte es, sowohl linke wie rechte Strömungen gegen sich auf zu bringen.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre avancierte er zum Publikums- und Medienliebling: Er war tragende Säule des Hypes um die Berliner Volksbühne und arbeitete eng mit dem Dramaturgen Carl Hegemann und Frank Castorf zusammen. Für Aufsehen sorgten z.B. seine Integration von Behinderten auf der Bühne, die Inszenierungen 100 Jahre CDU, Kühnen ´94, Rocky Dutschke ´68 oder vor allem spektakuläre Aktionen auf dem Wiener Opernplatz und der Kasseler Dokumenta 1997, von denen er kurze Videoausschnitte mitbrachte. Mit der Gründung der Partei Chance 2000, mit der er zur Bundestagswahl 1998 antreten wollte und Helmut Kohls Urlaubsdomizil am Wolfgangssee durcheinanderwirbelte, war er häufiger Gast in Talkshows und brachte frischen Wind in die politische Debatte, da er mit öffentlichkeitswirksamen Auftritten Minderheiten Gesicht und Stimme gab. Da er sich aber nicht weiter als Lieblingsprovokateur des linksliberalen Establishments vereinnahmen lassen wollte, stieß er Kritik und Publikum mit grotesken Shows, die in U-Bahnen aufgezeichnet und auf MTV ausgestrahlt wurden, gezielt vor den Kopf.

In diese Zeit fiel auch sein Bruch mit dem Volksbühnen – Guru Frank Castorf. Während des Kosovo – Kriegs 1999 plante er, Kriegsflüchtlinge in die Volksbühne zu holen und übergangsweise im Foyer unterzubringen, und führte deshalb mehrere Gespräche mit NGOs, der Bundeswehr und dem damaligen Innenminister Otto Schily. Aber Castorf und das Ensemble stellten sich in einer großen Konferenz quer. Man merkt Schlingensiefs sehr amüsanter Parodie auf den früheren Mentor eine tiefe Bitterkeit und Enttäuschung über das Zerwürfnis an. Er beklagte den Verfall der Volksbühne, der sich an künstlerischer Stagnation, sinkenden Publikumszahlen, dem teils freiwilligen, teils unfreiwiligen Weggang wichtiger Künstler und Presseverrissen zeigt.

2004 kam die überraschende Einladung, eine Oper zu inszenieren: Der Wagner – Clan bot ihm den Parsifal auf dem Grünen Hügel der Bayreuther Festspiele an. Schlingensief gelingen köstliche, brillante Parodien auf die beiden Gralshüter Wolfgang und Gudrun Wagner, die damals noch über das Erbe ihrer Dynastie wachten. Diese Energie und Spielfreude reißen mit. Für besonders große Heiterkeit im Publikum sorgt er, als er einen sehr unfreiwillig komischen Brief von Gudrun Wagner vorliest und ihr gespanntes Verhältnis kommentiert, das zum absehbaren Festspiel – Eklat führte.

Am Ende lief Gysi und Schlingensief wie beschrieben leider die Zeit davon. Insbesondere seine Krebsdiagnose und wie er damit umgeht, konnte nur angerissen werden. Dieses Thema wurde aber zuletzt in zahlreichen Beiträgen besprochen und stand im Zentrum seiner Theaterarbeit Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir sowie seiner veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Der Künstler vertrat die psychosomatische These, dass sich durch den Krebs das Verdrängte melde. Der Organismus wehre sich gegen die Verstellung, die aber laut Schlingensief in unserer Gesellschaft an der Tagesordnung sei und zuletzt auch Thema von Kriegenburgs Menschenfeind – Inszenierung war.

Zum Abschluss stellte Christoph Schlingensief noch das Projekt vor, das sein Vermächtnis eines kreativen, aber sehr wahrscheinlich viel zu kurzen Lebens werden soll: Er möchte zusammen mit einem einheimischen Architekten ein Festspielhaus in Ougadougou, der Hauptstadt des afrikanischen Staates Burkina Faso, bauen. Zu dem Areal sollen auch eine Schule, die bereits im Bau ist, und eine Krankenstation gehören.
Ausführlicheres kann man in der Diskussionssendung nachtstudio erfahren, wo Schlingensief unter anderem mit den Afrika – Kennern Henning Mankell und Rupert Neudeck sprach.

Der Auftritt dieser schillernden Persönlichkeit wurde mit großem Beifall bedacht und demonstrierte, wie groß der Verlust durch seinen hoffentlich nicht so nahen Tod wäre!

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