Kroesingers Dokumentartheater-Projekt „Musa Dagh“ bei der Gorki-„Passion“: sehenswertes politisches Theater

Historiker berichten, dass in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1915 mehr als 200 Armenier, vor allem Akademiker aus der Mittel- und Oberschicht, in Konstantinopel/Istanbul verhaftet wurden. Dies gilt als Ausgangpunkt für eine Kette dramatischer Ereignisse, die von den Armeniern als Aghet bezeichnet werden, was man am ehesten als Katastrophe übersetzen könnte.

Auch ein Jahrhundert später ist diese Wunde noch längst nicht verheilt. In den vergangenen Tagen spitzte sich der schon länger gärende Streit zu, wie dieses historische Ereignis zu bewerten ist. Nur an der Oberfläche scheint es ein Streit um Begriffe zu sein. Die türkische Regierung wehrt sich vehement dagegen, von einem Genozid oder Völkermord zu sprechen.

Nach längerer Debatte einigten sich die Koalitionsfraktionen auf eine recht diplomatisch verklausulierte Formulierung für das Leid der Armenier: „Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gekennzeichnet ist.“ Bundespräsident Gauck und Bundestagspräsident Lammert gingen in ihren Reden gestern Abend im Berliner Dom bzw. heute vor dem Plenum des Deutschen Bundestages einen Schritt weiter und bezeichneten die historischen Vorgänge unmissverständlich als Völkermord.

Die hitzigen Debatten der vergangenen Wochen boten Hans-Werner Kroesinger viel Stoff für sein Rechercheprojekt Musa Dagh – Tage des Widerstands , das am Gorki Anfang März Premiere hatte und den Passions- und Oster-Schwerpunkt Es schneit im April mit Filmen, Diskussionen, Lesungen, Konzerten und Performances einläutete. Kroesinger gelang ein sehr konzentrierter, faktenreicher Abend, der Motive aus Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh mit den Ergebnissen seiner Recherchen zeitgeschichtlicher Akten, die er so akribisch auswertete, wie wir es aus früheren Arbeiten von Kroesinger z.B. am HAU gewohnt sind.

Nach einem recht flapsigen Einstieg von Till Wonka beginnt eine ernste Auseinandersetzung, die das historische Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet: Welche Rolle spielten die Diplomaten des deutschen Kaiserreichs, eines Kriegsverbündeten der Türkei? Auf welche Arten intervenierte der Theologe Johannes Lepsius bei den offiziellen Stellen? Wie ging der Deutsche Bundestag in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Thema um? Die Schauspieler stellen eine Begegnung zwischen Lepsius und Hodscha nach, lesen aus dem Plenarprotokol der ersten großen Bundestagsdebatte zu diesem Thema vor zehn Jahren und aus der kurz angebundenen Antwort der Regierung auf eine Kleine Anfrage von 2014.

Kroesingers Abend bietet eine Fülle von Informationen, ohne das Publikum durch eine zu große Flut zu überfordern, und sorgt für reichlich Diskussionsstoff im Foyer oder auf dem Heimweg, als nach etwas weniger als zwei Stunden das Licht auf der Bühne plötzlich erlischt und der letzte Satz „Was gibt es noch zu erzählen?“ nachhallt.

Musa Dagh – Tage des Widerstands von Hans-Werner Kroesinger. – Frei nach dem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh von Franz Werfel. – Regie: Hans-Werner Kroesinger. – Bühne und Kostüme: Valerie von Stillfried. – Musik: Daniel Dorsch. – Dramaturgie: Aljoscha Begrich. – Künstlerische Mitarbeit: Regine Dura. – Mit: Judica Albrecht, Marina Frenk, Ruth Reinecke, Falilou Seck, Armin Wieser, Till Wonka. – Ca. 1 Stunde 45 Minuten ohne Pause. – Premiere am Gorki: 7. März 2015

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