„Hausbesuch Europa“ von Rimini Protokoll: Spieltheorie mit Schokokuchen ohne Schnaps

In seiner neuesten Produktion verzichtet das Rimini Protokoll-Team auf die Experten des Alltags, die 15 Teilnehmer bleiben ganz unter sich in einer Privatwohnung: die mutigen, überwiegend jungen Teilnehmer des Hausbesuch Europa trafen sich diesmal in einem Genossenschafts-Projekt mit Spree-Blick in bester Mitte-Lage: teilweise noch Baustelle, aber ansonsten schick eingerichtet. Das passt auch irgendwie zum aktuellen Zustand Europas.

Die beiden Spielleiter stellen ein Kästchen auf den langen Esszimmer-Tisch, das optisch ein Mittelding aus tickender Zeitbombe und Jobcenter-Wartenummern-Automat ist. Reihum zieht jeder einen Bon mit Amweisungen, fast so wie bei gemütlichen Spieleabenden. Die ersten Fragen gehen an die Gastgeber: Wie lange sie hier schon wohnen? Wie viele Leute hier leben? Was wählen eigentlich die Nachbarn und machen sie laute Geräusche?

Die ersten drei Levels dieses Spiels dienen dem gegenseitigen Kennenlernen der zufällig zusammengewürfelten, aber erstaunlich homogenen Gruppe. Bei dieser Ausgabe entwickelte sich aber kein wirklicher Austausch zwischen den Teilnehmern, die Kommunikation verlief mit mit angezogener Handbremse, was wohl in diesem Fall auch an den Mikrofon-Angeln des arte-Teams lag, die über dem Tisch baumelten.

Am interessantesten wird es in der letzten Runde, wenn es ans Eingemachte oder besser gesagt um das größte Stück des Schoko-Kuchens im Backofen geht. Nach etwas undurchsichtigen Regeln werden Zweier-Teams gebildet, die gegeneinander antreten und mit den klassischen Fragen der Spieltheorie konfrontiert werden: Was bringt uns mehr? Kooperation? Oder sollen wir lieber nur auf die Maximierung des eigenen Gewinns schielen? Die Verhandlungen im real existierenden europäischen Mehrebenen-System sind sicher noch wesentlich komplexer als diese nette Runde, aber auch hier geht es schnell hoch her: Warum bekommt dieses Team plötzlich Punkte abgezogen? Was sind eigentlich die Regeln? Und schon steht die nächste Entscheidung an, der Countdown läuft, in 15 Sekunden muss die Bestätigungs-Taste gedrückt sein, sonst gibt es auf jeden Fall Punktabzug.

Auf der Zielgeraden wird mit qualifizierter Mehrheit entscheiden: Nein, kein Schnaps für das führende Team. Als der Wecker piepst, wird endlich der Schokokuchen verteilt: wie im richtigen Leben bekommen einige die größten Stücke, zwei Duos gehen leer aus und bekommen nur heimlich einige Brosamen zugesteckt. Den Wein schenken die Gastgeber aber für alle aus.

Ein amüsanter Zeitvertreib am Feiertag, aber von der Vielschichtigkeit und analytischen Schärfe früherer Rimini Protokoll-Arbeiten ist der Hausbesuch Europa leider ein Stück entfernt.

Hausbesuch Europa / Home Visit Europe – Konzept / Skript / Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel (Rimini Protokoll). – Dramaturgie: Katja Hagedorn. – Interaktionsdesign: Grit Schuster, Hans Leser, Mirko Dietrich. – Assistenz Interaktionsdesign: Philipp Arnold. – Ausstattung: Belle Santos, Lena Mody. – Assistenz Ausstattung: Ran Chai Bar-Zvi. – Produktionsleitung: Juliane Männel. – Technische Leitung: Sven Nichterlein. – Koproduktion mit dem HAU und zahlreichen europäischen Theatern/Festivals. – Erster Hausbesuch war am 6. Mai 2015

Foto: Pigi Psiomenou

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