Jürgen Kuttners Volksbühnen-Geburtstags-Revue „Ach, Volk, du obermieses“: immer noch ohne Boa constrictor, aber mit Breitseiten gegen Tim Renner

Die von Nachtkritik ersehnte Boa constrictor fehlt leider immer noch in Jürgen Kuttners Volksbühnen-Geburtstags-Revue Ach, Volk, du obermieses. Ansonsten hat der Abend seit der Premiere vor knapp fünf Monaten einige Häutungen hinter sich: gestern war schon nach etwas mehr als zwei Stunden Schluss, für Kuttner eine Kurzfassung und für Castorf-Verhältnisse eine Sprint-Strecke. Anscheinend hat der Conférencier einige seiner geliebten Videoschnipsel rausgeschmissen.

Der Anfang ist so, wie ihn auch die Premierenkritiken beschrieben: Zunächst darf Margarita Breitkreiz im Abendkleid eine deutsche Version von Sound of Silence trällern. Dann provoziert ein Chor das Publikum mit den Wiederholungsschleifen des Barry McGuire-Covers Wir sind am Ende : „und ich saaage euch immer und immer und immer, doch ihr hört mir nicht zu… Schon morgen kann es geschehen, und wir sind am Ende.“ So weit, so gut: bewährter Volksbühnen-Humor.

Dies ist der Moment, an dem auch Gastgeber Kuttner seine bis ungefähr Reihe 7 vergrößerte Bühne betritt. Er klärt uns auf, dass wir Anfang und Schluss der Revue bereits gesehen haben. Das sei ein besonderer Service für vielbeschäftigte Manager. Der Mittelteil folge nun. Vor allem nutzt er diesen Gag als Steilvorlage für eine Abrechnung mit seinem neuen Lieblingsgegner Tim Renner.

Wie ein roter Faden zieht sich die Wut auf die Entscheidung des Kulturstaatssekretärs, Castorf durch Dercon zu ersetzen, durch Kuttners ansonsten assoziativ mäandernde Moderationen. Selten bleibt es bei Anspielungen auf weiße Hemden, in den meisten Fällen nennt er ganz explizit Ross und Reiter. Amüsiertes Gelächter erntet das Ensemble, als sie eine Szene auf zwei Arten spielen: zuerst, wie Kuttner schwärmt, international kompatibel, von Argentinien über die Tate Modern bis Berlin universal einsetzbar, tänzerisch, auf der Höhe performativer Kunst. Und dann noch mal richtig, so wie wir hier das an der Volksbühne machen.

Der Geburtstagsrevue Reloaded geben diese Breitseiten gegen aktuelle kulturpolitische Entscheidungen die nötige Würze: ansonsten wären die Insider-Gags (Kartoffelsalat, Henry Hübchen im Wohnwagen, ein Heiner Müller-Monolog von Sophie Rois, der von Teilen des Publikums zu Kuttners Freude mit „Was sollte das denn?“ quittiert wurde), Suse Wächters Hitler-Puppen und der große Auftritt von Freiburger Teenagern auf Klassenfahrt beim Live-Video-Dreh-Mitmach-Theater am Ende des Stückes doch etwas fad gewesen.

Wenn jetzt auch noch die ersehnte Boa constrictor aufgetrieben werden kann, wird es sich auch Christoph Marthaler nicht nehmen lassen, seinen Murks den Europäer-Chor wieder aus vollem Herzen Danke! singen zu lassen.

Ach, Volk, du obermieses – Eine Revue am Bülow-Wessel-Luxemburg-Platz von Jürgen Kuttner und André Meier. – Regie: Jürgen Kuttner, Konzeptionelle Mitarbeit: André Meier, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Johannes Zotz, Video: David Tschöpe, Dramaturgie: Sabine Zielke, André Meier. – Mit: Maximilian Brauer, Margarita Breitkreiz, Ursula Karusseit, Jürgen Kuttner, Hans-Jochen Menzel, Silvia Rieger, Sophie Rois, Mex Schlüpfer, Suse Wächter, Harald Warmbrunn, Chor der Werktätigen, Michael Letz und Band EMMA. – Premiere war am 4. Dezember 2014 in der Volksbühne. – Ca. 2 Stunden 15 Minuten ohne Pause

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