Rachedürstende Raben, die Kindern die Augen aushacken, Stinkbomben aufs Soho House, wo sich die Mitte-Hipster am Anstieg zum Prenzlauer Berg treffen, und Schikanen gegen palästinensische Händler an den israelischen Checkpoints: Die frisch gebackene Theatertreffen-Teilnehmerin Yael Ronen hat sich für ihren neuen Abend Das Kohlhaas-Prinzip einiges vorgenommen. Es ist schon eine Leistung, so viele unterschiedliche Themen mit reichlich Sprengkraft in weniger als zwei Stunden zu packen, ohne dass einem die ganze Ladung um die Ohren fliegt!
Schon zu Beginn wird klar, dass Yael Ronens sehr freie Auseinandersetzung mit Kleists berühmter Novelle nicht so wohltemperiert ablaufen wird wie Laurent Chétouanes Choreographie Considering, die vor wenigen Tagen am HAU zu sehen und vom selben Autor inspiriert war. Dimitrij Schaad nuschelt einige Sätze aus Kleists Michael Kohlhaas und fällt dann im doppelten Sinn aus der Rolle: Breitbeinig stellt er sich hin und verkündet im Brustton der Überzeugung, dass mit seinem geballten Talent hier niemand mithalten könne. Einen nach dem anderen nimmt sich der Dimi vor und knallt den Kollegen im jovialen Ton Unverschämtheiten voller garstiger Klischees über Migranten und andere Minderheiten an den Kopf: der Jerry, die Cynthia, der Taner und der Thomas – das seien ja alles nur Loser. So markiert der Dimi sein Revier und wirft seinen Hut in den Ring: Wer ist die coolste Rampensau des Gorki-Ensembles?
Die Samthandschuhe sind ausgezogen, das Spiel kann beginnen: den Kohlhaas gibt es hier gleich in doppelter Ausführung. Mit der Obrigkeit legt sich sowohl ein E-Bike-Verkäufer aus dem Friedrichshain als auch ein Schafskäse-Händler aus Ramallah an. Der eine wird von einem BMW, der mit allen Extras ausgestattet mehr einem Panzer als einem herkömmlichen Auto gleicht, gerammt und sein Sohn dabei verletzt. Als er sich an einen aufstrebenden jungen Anwalt wendet, erklärt der ihm offenherzig: eine Klage auf Schmerzensgeld und Schadenersatz sei keine gute Idee. Erstens wolle er bald Partner in der Kanzlei werden und da komme es gar nicht gut, wenn er sich mit einem so mächtigen und reichen Mann anlege wie Hajo von Tronka, der auf der Forbes-Liste weit oben steht. Zweitens sei die Familie bestens vernetzt, die Frau Mama des potentiellen Prozessgegners habe auch noch eine Affäre mit dem Justizsenator. Deswegen sein gut gemeinter Rat: er solle sich nicht verrennen. Der andere Kohlhaas wird an einem Checkpoint der israelischen Armee aufgehalten, in ein kafkaeskes Labyrinth aus Anträgen und Formularen geschickt und schließlich ins Gefängnis geworfen. Da er später mit einem Visum nach Deutschland einreist, kreuzen sich die beiden Kohlhaas-Erzählstränge in Berlin. Ab dieser gewagten Volte wackelt das Erzählkonstrukt teilweise bedenklich, fliegt Ronen und ihrem Ensemble aber nicht um die Ohren.
Es ist jetzt ohnehin Zeit, das Tempo noch mal gehörig anzuziehen, findet Yael Ronen. Sie bringt nicht nur die schon erwähnten aggressiven Raben ins Spiel, die schon längere Zeit mehr oder minder dezent als Videoprojektionen über die Wände flimmerten, sondern sprintet rasant durch immer neue Verästelungen ihres Plots, bis sie bei zwei weiteren großen Auftritten ihrer Schauspieler landet. Der eine gehört Cynthia Micas, die fest entschlossen ist, Timo Weisschnur nach seiner jüngsten Superhelden-Performance in der Box des Deutschen Theaters den Fehdehandschuh hinzuwerfen: Wer schwingt sich eleganter von der Decke? Sie in ihrem schwarzen Batwoman-Kostüm oder er mit dem Veto-V auf der nackten Brust?
Der zweite große Auftritt vor dem Finale gehört Thomas Wodianka: er lässt die Pappbühne in Flammen aufgehen und tigert in bester Mick Jagger-Manier mit seinem Paint it black-Solo über die Bühne. Gut gekontert im Wettstreit um den Titel, wer sich als coolste Rampensau des Gorki-Ensembles bezeichnen darf! Die Jury plädiert auf Unentschieden. An der fälligen Stichwahl sollte auch Tamer Arslan teilnehmen, der in dieser Produktion zwar nicht mitwirkt, aber bei anderen Gorki-Abenden gezeigt hat, dass er ebenfalls ein Anwärter auf diesen Titel ist.
Die Welt steht in Flammen, der Abend neigt sich dem Ende entgegen, Geheimdienst und Justiz treten auf den Plan und bieten dem Kohlhaas einen Deal an, wie das begangene Unrecht elegant aus der Welt geschafft werden könnte. Dieser hört aber erst mal Stimmen von Martin Luther King und Mahatma Gandhi, eine Nummer kleiner geht es an diesem turbulenten, vom Hölzchen aufs Stöckchen springenden Abend auch keinesfalls: da müssen schon zwei solche Ikonen ran, um die Schuldgefühle und Selbstzweifel des Kohlhaas zu artikulieren.
„Total durchgeknallter Abend“ seufzt eine Besucherin nach dem Schlussapplaus. Aber nach dem lautstarken Beifall zu urteilen, ist die Mehrheit damit sehr glücklich. Endlich, endlich sind wieder der Schuss Anarchie und die überschäumende Spielfreude am Gorki zu erleben, die das Haus in der ersten Spielzeit unter der neuen Intendanz von Shermin Langhoff so interessant machten, an einigen Abenden zuletzt aber vermisst wurden.
Dieses Feuer, das Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen, Small Town Boy und mit Einschränkungen auch Common Ground zu Theaterereignissen machte, springt auch auf Das Kohlhaas-Prinzip über. Dass der Abend diesen Vorbildern dennoch nicht ganz gewachsen ist, liegt daran, dass er die zahlreichen politischen Probleme, die er kurz antippt, nur streift, ohne sie so strukturiert zu vertiefen, wie es die genannten Abende auszeichnete.
Yael Ronen spricht viele Tatsachen an, die wir aus der Realität und den täglichen Nachrichten kennen: die mangelnde Kontrolle der Geheimdienste, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, die weltweiten Krisenherde, für die hier exemplarisch der Nahost-Konflikt und der IS-Terror stehen. Auf der Gorki-Bühne torpedieren einige Nachahmungstäter von Kohlhaas mit ihren Guy Hawkes-Masken die Vorbereitungen auf das 20. Dienstjubiläum von Angela Merkel im Grand Hotel Heiligendamm. In der Realität blickt Angela Merkel erst ihrem 10. Jubiläum entgegen und obwohl die Zutaten für einen Wut-Cocktail vorhanden wären, blieb der große Knall bisher aus.
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