Das mulmige Gefühl ist vielen Gesichtern des Kölner Premierenpublikums von Supernerds deutlich anzumerken. Bei den Kameraschwenks durchs Auditorium sind manche freigebliebene Sitze zu erkennen, bereits im Vorfeld gab es Proteste von Abonennten, aber einige haben sich doch als Versuchskaninchen auf den Präsentierteller gewagt. Ein bunter Querschnitt ist vom Sofa aus via Stream und WDR-Live-Übertragung auszumachen: mittendrin Fritz Pleitgen, viel gutsituiertes, bildungsbürgerlich wirkendes Publikum, aber auch einige junge Zuschauer lassen sich auf ein Experiment ein, das im Untertitel als Ein Überwachungsabend angekündigt wurde.
Mit 9/11 hat alles begonnen, ist die Quintessenz der ersten Minuten. Das Ensemble steht vorne an der Rampe und verkörpert jene Whistleblower, die Regisseurin Angela Richter und ihr Stab in beeindruckender Recherchearbeit befragt haben. Seit den Anschlägen auf das World Trade Center wurde der Überwachungsapparat von NSA und Co. massiv ausgebaut. In den Eingangsstatements erfahren wir von den Motiven der Whistleblower, an die Öffentlichkeit zu gehen und vor den Mechanismen der Datenkrake zu warnen. Manche sind prominent, fast schon Ikonen (Julian Assange, Edward Snowden), andere sind eher Insidern bekannt (William Binney oder Thomas Drake, die beide auch als Zeugen beim NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages vorgeladen waren).
Leider klinkt sich der WDR recht bald aus dem Theatersaal aus, Bettina Böttinger präsentiert stattdessen Einspieler als Info-Häppchen für absolute Einsteiger ins Thema und talkt mit Studiogästen wie Wolfgang Kaleck, einem der Anwälte von Snowden. In einer schwer zu ertragenden Mischung aus Zynismus und Aggresivität animiert sie das TV-Publikum, sich an Abstimmungen zu beteiligen: Soll das Theaterpublikum richtig gequält werden? Soll einer oder eine mit allen verfügbaren Daten nackt gemacht werden, wie Böttinger gleich drei Mal in die Kamera fragt?
Endlich geht es wieder zurück in den Theatersaal, wo das Publikum ganz plastisch vor Augen geführt bekommt, dass schon anhand weniger Daten ein aussagekräftiges Profil erstellt werden kann. Die Tickets konnten nur mit Kreditkarte gebucht werden, aus diesem Pool an Daten bediente sich das Team im Hintergrund. Die erste Frage ist noch zum Aufwärmen: Wer wohnt linksrheinisch und wer rechtsrheinisch, die Smartphones werden zum Leuchten gebracht und bilden Cluster mit dem erwarteten Ergebnis: die große Mehrheit wohnt standesgemäß, nur wenige auf der Schäl Sick.
Als dann ein recht detailliertes Profil eines Mannes (zwischen 40 und 50, Jahresgehalt ca. 50.000 €, hübsches Haus, das zwar auf Google StreetView verpixelt, aber bei anderen Diensten gut sichtbar sei) rutschen einige unruhig auf ihren Stühlen hin und her: der Theaterabend zeigt plastisch, wie gläsern der moderne Mensch Anfang des 21. Jahrhunderts ist. Kurz darauf versinkt ein Student in seinem Theatersessel, als er sich in Großaufnahme auf der Leinwand wiedersieht: sein Smartphone wurde mit ganz einfachen Mitteln von den Supernerds-Machern gehackt.
Kurz vor Schluss kommt Bettina Böttinger aus ihrem Studio auf die Bühne und leitet zu einem flammenden Plädoyer von Julian Assange auf der Videowand über: unsere Gesellschaft leide an Geheimdienstkrebs.
Supernerds ist ein interessanter Abend, dem man anmerkt, wie viel Recherchearbeit investiert wurde. Ein Abend, der aufrütteln will, und vor allem die breite Masse der Gesellschaft jenseits der Digital Natives und Netzbewohner für Datenschutz und das Ausmaß der Überwachung sensibilisieren will. Das Experiment auf der Bühne würde ich als gelungen bezeichnen, aber das Drumherum, das der WDR mit Bettina Böttinger und Richard Gutjahr als Versuch eines Cross-Media-Events dazubasteln wollte, wirkte überflüssig und peinlich.
Darauf hätte der WDR gut verzichten können, da er ja ohnehin zum Abschluss des Themenabends noch eine sehenswerte Dokumentation in der Hinterhand hatte, die über manche Unzulänglichkeit davor hinwegsehen ließ: Cyril Tuschi hatte in 90 Minuten die nötige Zeit, ein beeindruckendes Panorama der Whistleblower-Szene und ihrer sehr unterschiedlichen Hintergründe zu zeichnen. In Digitale Dissidenten kommen sie ausführlich zu Wort: die anarchistischen Cyberpunks und die Patrioten, die jahrzehntelang im Dienst von Regierung oder Armee standen und Missstände dann nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Einen besonderen Reiz der Dokumentation macht aus, dass der Kommentar aus dem Off von der deutschen Synchron-Stimme von Frank Underwood aus House of Cards gesprochen wird.
Cyril Tuschi hat nach Der Fall Chodorkowski, der 2011 auf der Berlinale lief, erneut bewiesen, warum er zu den interessantesten Regisseuren politischer Dokumentarfilme zu zählen ist.
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