Politisches Theater: Brechts „Mutter“ mit Ursula Werner und Ernst Busch-Nachwuchs, Ursina Lardi als zynische NGO-Frau in Milo Raus polemischem Theater-Essay „Mitleid“ und „Kleiner Mann, was nun?“ am Gorki

Die politischen Stoffe erleben momentan eine Renaissance auf den Theaterbühnen, analysierte DeutschlandRadio Kultur in einem hörens- und lesenswerten Feature.

Das gilt auch für die Berliner Theaterlandschaft, wo in den vergangenen Tagen drei interessante Inszenierungen Premiere hatten.

„Die Mutter“ im Studio der Schaubühne: so frisch kann man Brecht inszenieren

Die Studentinnen und Studenten der Ernst Busch-Schauspielschule haben sich gemeinsam mit ihrem Dozenten und Regisseur Peter Kleinert ausgerechnet das Lehrstück „Die Mutter“ von Bertolt Brecht ausgesucht. Sich noch mal an Brecht zu wagen, ist nach den Flops der vergangenen Monate eine mutige Wahl: Am Berliner Ensemble herrschte bei Leander Haußmanns Inszenierung der Parabel „Der gute Mensch von Sezuan“ gähnende Langeweile, obwohl der Regisseur zuvor oft genug bewiesen hat, dass er die Bühne mit seinem Drive und einem spannenden Zugriff auf Klassiker rocken kann. Nicht recht viel besser erging es dem bewährten Regie-Duo Jürgen Kuttner/Tom Kühnel bei ihrer lauwarmen, zähen „Eisler on the Beach“-Expedition in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, als sie die Familie von Hanns Eisler vorstellten, der die Bühnenmusik für Brechts „Die Mutter“ schrieb. Ganz zu schweigen von der altbackenen Brecht/Weill/Eisler-Revue „Es wechseln die Zeiten“, die derzeit noch im Repertoire des Berliner Ensembles ist.

Mit dementsprechend gedämpften Erwartungen geht es an die Schaubühne am Lehniner Platz: Wird der Nachwuchs von der HfS Ernst Busch sich und uns einen weiteren Brecht-Abend antun, der sich wie Kaugummi in die Länge zieht?

Zum Glück kommt es anders. Das Ensemble (Elvis Clausen, Daniel Klausner, Benjamin Kühni, Thimo Meitner, Celina Rongen, Rosa Thormeyer, Felix Witzlau) zaubert einen erfrischenden Abend auf die Bühne, der nah an Brechts Vorlage bleibt, ihn aber sehr amüsant und kritisch darauf abklopft, was uns dieses Agitationsdrama für eine kommunistische Weltrevolution aus der Endphase der Weimarer Republik heute noch zu sagen hat.

Der Abend beginnt und endet mit Videoeinspielern aus den Proben: die Twentysomethings lesen aus der Taschenbuchausgabe bekannte Zitate wie „Das Sichere ist nicht sicher“ oder „Was ist der Ausweg“, schauen mit großen Augen fragend in die Kamera und grübeln, was ihnen die Zeilen für ihren Alltag sagen. Diese Idee mag nicht neu sein, wurde hier aber gut umgesetzt.

Noch besser sind allerdings die etwas mehr als zwei Stunden, die dazwischen liegen: der Truppe gelingt das Kunststück, die richtige Balance zwischen ironischer Brechung und dem Ernstnehmen der Vorlage zu wahren. Einerseits spielen sie Brechts Fabel von der Proletarierin Pelagea Wlassowa, die sich Schritt für Schritt von einer unpolitischen Frau zur überzeugten Revolutionärin wandelt, in all seinen Stationen recht detailgetreu nach. Andererseits wird die Handlung durch Auftritte wie den Rap von MC V-Effekt oder ähnliche, mit Szenenapplaus bedachte Einlagen auf amüsante und intelligente Art gebrochen. Felix Witzlau rauscht als personifizierter Kapitalismus im Glitzer-Kostüm herein und feuert einige böse Bemerkungen über das wohlsituierte Theater-Publikum, das in kapitalismus- und globalisierungskritische Aufführungen strömt, und über die Flüchtlinge als Humankapital ab. Anspielungen auf die Kreuzberger Krawall-Folklore zum 1. Mai, die russischen Femen-Aktivistinnen oder die Merkel-Raute wechseln sich mit weiteren Solo-Nummern wie von Elvis Clausen ab, der sich beklagt, dass er statt Brechts Agitationsdrama viel lieber einen Klassiker von Kleist spielen würde.

Nach den ironischen Experimenten ist es meist die Aufgabe von Ursula Werner als „Mutter der Kompanie“, ihre jungen Kolleginnen und Kollegen wieder einzufangen. Nach mehreren Jahrzehnten im Gorki-Ensemble arbeitet sie nun an verschiedenen Theatern (besonders oft mit Armin Petras, der als Intendant vom Gorki nach Stuttgart wechselte) oder mit dem Regisseur Andreas Dresen fürs Kino. Das „Theater-Schlachtross“ Ursula Werner, wie sie an einer Stelle despektierlich bezeichnet wird, ist mit ihrer Erfahrung und Ausstrahlung in der Titelrolle der ruhende Pol des Abends und bietet im Zusammenspiel mit den talentierten HfS-Schülerinnen und Schülern ein Theatervergnügen.

Bild von Ursula Werner als „Die Mutter“: Gianmarco Bresadola

„Kleiner Mann – was nun?: Ungewohnte Töne am Gorki

Für seinen Aufruf zum revolutionären Klassenkampf nahm Brecht im Jahr 1932 den halb-dokumentarischen Roman „Die Mutter“ (1906/07) des russischen Autors Maxim Gorki als Vorlage. Wie es der Zufall will, stand auf der Berliner Bühne, die nach Gorki benannt ist und sich heute dem post-migrantischen Theater verschrieben hat, die Bearbeitung eines Romans auf dem Spielplan, der zur selben Zeit erschien: Hakan Savaş Micans Inszenierung von Hans Falladas berühmtem, mehrfach auch fürs Fernsehen adaptiertem Roman „Kleiner Mann – was nun?“

Die Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nazis in den letzten Jahren der Weimarer Republik sind im Hintergrund präsent. Im Mittelpunkt stehen hier aber Pinneberg und sein „Lämmchen“, die als Kleinfamilie während der Weltwirtschaftskrise verzweifelt um ihre Existenz kämpfen.

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Bild mit Anastasia Gubareva und Dimtrij Schaad: Esra Rotthoff

Wie sooft beginnt auch dieser Abend am Gorki damit, dass Dimitrij Schaad an die Rampe tritt. Normalerweise haut er jetzt erstmal ein paar Sprüche raus oder zieht andere Ensemble-Mitglieder wie in Yael Ronens „Das Kohlhaas-Prinzip“ auf. Doch diesmal beginnt der Abend ungewohnt: er spricht den Text der Hauptfigur Pinneberg „betont unironisch“ und trägt wie auch seine Kolleginnen und Kollegen „betulich historisierende Kostüme“, die man eher am Berliner Ensemble als am Gorki vermuten würde, wie Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung bemerkte.

Auch sonst ist vieles anders, als wir es vom Gorki kennen: Der Altersdurchschnitt des Publikums ist viel höher. Während sich Regisseur Hakan Savaş Mican vor einem Jahr noch sehr frei bei einigen Motiven des Romans „Schnee“ des türkischen Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk bediente, hält er sich diesmal sehr nah an die Vorlage aus dem Jahr 1932.

Dass dieses Konzept aufgeht, liegt vor allem an den starken Leistungen der beiden Hauptdarsteller: Dimitrij Schaad und Anastasia Gubareva spielen das Paar, das sich aneinander und an seiner Liebe festklammert und den Widrigkeiten trotzt. Die weiteren Figuren des Romans teilen Tamer Arslan, Mehmet Ateşçi, Tim Porath, Çiğdem Teke und Mehmet Yilmaz unter sich auf: mal karikaturistisch überspitzt, mal nur leicht hingetupft.

Seine Linie, den Roman recht originalgetreu und ohne Aktualisierungen auf die Bühne zu bringen, verlässt der Regisseur nur an wenigen Stellen. In einer kurzen Szene wird Pinneberg in einer Blitz-Zeitreise prophezeit, wie sich seine Stadt Berlin in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird: Krieg und Mauerbau werden kurz gestreift, sogenannte „Gastarbeiter“ und Wiederaufbau der Demokratie gewürdigt und die untragbaren Zustände vor dem LaGeSo scharf kritisiert, bevor es wieder in der Originalhandlung weitergeht. Wie an vielen Häusern üblich wurde auch nach dieser Vorstellung wieder um Spenden für die ehrenamtlichen Helfer gebeten, die sich um die Menschen kümmern, die vor Hunger und Bürgerkrieg zu uns flüchten.

Der Regisseur diskutierte in einem Programmheft-Interview mit dem Soziologen Wolfgang Engler darüber, warum er sich gegen eine Aktualisierung des Stoffes entschieden hat: Während man zu Pinnebergs Zeiten noch von einer recht homogenen „Arbeiterklasse“ ausgehen konnte, ist die heutige Situation wesentlich ausdifferenzierter: „Es gibt die Facharbeiter, Leiharbeiter, Zeitarbeiter, die in Werkverträgen Beschäftigten, die Illegalen, die gar keinen Vertrag haben, die Stamm- und Randbelegschaften! Je mehr einzelne Kategorien es gibt, umso mehr verliert sich auch der Zusammenhang untereinander. Im Bewusstsein der Beteiligten lebt eher der Differenz: ich bin der und nicht der! Ich habe noch ein paar Vorteile im Bezug auf die Anderen, die noch kommen!“

Deshalb ist die Entscheidung, nicht noch stärker aktuelle Bezüge auf das Hier und Jetzt herauszupräpieren, durchaus schlüssig. Mit „Kleiner Mann – was nun?“ bietet das Gorki einen ungewohnten Farbtupfer in seinem Repertoire, an dem wenig auszusetzen ist. Wenn da nicht der Zigarren- und Zigarettenqualm wäre, dem nicht nur das Publikum, sondern auch die schwangere Hauptdarstellerin so penetrant wie lange nicht mehr ausgesetzt ist. Ein Rückfall in die stark verqualmten Zeiten des Vorgänger-Intendanten Armin Petras am Gorki.

„Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“: NGO-Bashing von Milo Rau mit Ursina Lardi

Vor der Premiere von Milo Raus „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ rauschte es gewaltig im Blätterwald. In Gastbeiträgen für die Schweizer Sonntagszeitung und die ZEIT (hier zusammengefasst) stellte der Regisseur seine Thesen bereits sehr zugespitzt dar.

Das Problem dieses Abends ist, dass er kaum über dieses bereits Bekannte hinausgeht, sondern stattdessen fast zwei Stunden lang immer wieder in dieselbe Kerbe hineinhämmert. Ursina Lardi hat die undankbare Aufgabe, eine zynische Entwicklungshelferin zu spielen. Sie stakst über die wie in einem Slum zugemüllte Bühne, ihr Monolog wird parallel großformatig auf die Rückwand projiziert.

Mitleid - Die Geschichte des Maschinengewehrs

Ursina Lardi stakst über den Müll. Bild: Daniel Seiffert

Es ist durchaus beeindruckend, wie Lardi ihre Figur spielt, die aus mehreren Interviews mit NGO-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammengesampelt ist: makellos schön in ihrem eleganten blauen Kleid und entsetzlich unsympathisch in ihrer Borniertheit und ihren rassistischen Untertönen. Sie schildert eine Frau, die damit prahlt, dass sich Entwicklungsarbeit immer gut im Lebenslauf und beim Small-Talk auf Partys macht. Sobald der Genozid auch in Goma ankommt, dreht sie Beethovens 7. Symphonie auf volle Lautstärke, um das Schreien der Opfer nicht hören zu müssen.

rbb-inforadio fasst in der Überschrift treffend zusammen, was uns hier geboten wird: eine Abrechnung mit der Mitleids-Industrie. Es ist sicher legitim und notwendig, auch die Arbeit der Hilfsorganisationen kritisch zu hinterfragen: Die UNO sei immer als erste weg, heißt es. Die NGOs, über deren kreative Namen sich der Abend lustig macht, buhlten um Spenden und graben sich gegenseitig das Wasser ab. Während sich die Spirale der Gewalt weiterdreht, sind sie ein hilfloser Teil davon.

Aber das Erschreckende an diesem Abend ist, wie undifferenziert Milo Raus Inszenierung bleibt. Es ist überraschend, dass ausgerechnet Milo Rau, der beim „Kongo Tribunal“ bewies, wie akribisch und differenzierend er arbeiten kann, eine Inszenierung abliefert, die so „wenig subtil und moralisierend, zu sehr 1:1“ (3sat kulturzeit) ist, anstatt zum Denken anzuregen.

Ein Lichtblick an diesem Abend ist Consolate Sipérius: in Burundi geboren, mittlerweile in Belgien lebend, entdeckte Rau sie bei einer „Antigone“-Inszenierung. Sie sitzt fast den gesamten Abend stumm an ihrem Tisch am Bühnenrand, spricht nur am Anfang und Schluss kurze Monologe vor einer Videokamera.

Als sie das berühmte Finale „Kapitel 5: Die Rache des Riesengesichts“ aus „Inglorious Basterds“ plastisch beschreibt und die Rachephantasien dieses Tarantino-Films auf sich und das Publikum wirken ist, bekommt der Abend für kurze Momente eine Lebendigkeit und Eindringlichkeit, die ich mir auch für den Rest gewünscht hätte.

Der Tiefpunkt des Abends war kurz zuvor erreicht. Während Ursina Lardi eine Demütigung aus dem Bürgerkrieg nachspielte und auf offener Bühne pinkeln musste, hielten sich einige Premierenbesucher die Hände vors Gesicht: Fremdschämen am Kudamm.

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