tt 2017: Die Borderline Prozession

In die eiskalten Rathenau-Hallen nach Schöneweide hat sich das Theatertreffen am zweiten Abend verirrt.

Wer den LIDL-Parkplatz und die Pfützen vor dem Eingang überquert hat, trifft dort auf eine bizarres Ritual: stoisch umkreist das Ensemble mehrstöckige Aufbauten, schwenkt das Weihrauchfass und singt dabei voller Inbrunst „In a manner of speaking“ von Tuxedomoon. Willkommen bei der „Borderline Prozession“ des Schauspiels Dortmund.

In jeder Wabe dieses verschachtelten Ungetüms quälen sich Menschen durch ihren „Alltag“, wie der 1. Teil des knapp dreistündigen Abends überschrieben ist. Ein älteres Paar sitzt beim Frühstück, ein junges Paar duscht und kuschelt, ein Mann trainiert auf dem Rad und entspannt anschließend im Whirlpool, ein Mann legt sich ins Bett. Wieder und wieder spielen sich diese banalen Szenen ab: fast alle gleichzeitig, alle live auf große Videowände übertragen. Der Zuschauer steht vor der Frage, wohin er zuerst blicken soll. Wie im richtigen Leben wird er immer nur einen Ausschnitt der Realität wahrnehmen. Das zähe Treiben wird mit eingestreuten philosophischen und erkenntnistheorischen Schnipseln unterlegt, eine Collage aus Bibel-Texten, Deleuze-Fragmenten und einigem mehr.

Bei der letzten Wiederholung bekommt der Mann im Whirlpool einen orangefarbenen Overall übergezogen und wird mit Waterboarding gefoltert. Das Publikum wird aufgefordert, sich einen anderen Platz zu suchen und eine neue Perspektive einzunehmen. Der zweite Teil beginnt: Unter der Überschrift „Crisis“ wird sehr viel Erwartbares zusammengerührt. Trumps „America First“-Parolen werden ausführlich eingespielt, die AfD-Programmatik wird ausgiebig zitiert, tagesaktuelle Meldungen von Macrons Wahlsieg oder von der Leyens Strampeln im neuen Bundeswehrskandal-Geflecht daruntergemischt. Auch vor platten Szenen scheut der Abend nicht zurück: eine Frau rennt mehrmals gegen das von zwei Uniformierten bewachtesTor an, wird in ein Auto gezerrt und brutal vergewaltigt, während der Geistliche regungslos daneben sitzt.

Im letzten Teil darf der Nachwuchs von der Essener Folkwang-Schule in Lolita-Kostümchen zu Britney Spears tanzen, Jonathan Messe zitieren und eine Napoleon-Figur zu Grabe tragen, bevor das Publikum endlich erlöst ist.

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Der technische Aufwand ist immens. Der Mut, weit abseits des klassischen Stadtheater-Repertoires ein Gesamtkunstwerk aus Musik-, Kunst-, Theater- und Filminstallation auszuprobieren, ist respektabel. Statt eines dramaturgisch überzeugenden Musik- und Zitatengewitters bekommt das Publikum zu viel Namedropping, lieblos aneinander gereihte, teils auch nur pseudo-philosophische Versatzstücke um die Ohren gehauen. Fader Eintopf in kalter Industrieruine statt herzerfrischendem Theater-Fest.

„Die Borderline Prozession“ wurde am 15. April 2016 im Dortmunder Megastore uraufgeführt und läuft vom 7. bis 11. Mai 2017 beim Berliner Theatertreffen

Bilder: Marcel Schaar

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